Erste Hälfte 20. Jahrhundert
Kriegerische, braune und zerstörte Stadt
Gießen war kein Ort des Kampfgeschehens im Ersten Weltkrieg. Doch errichtete das Militär an der Grünberger Straße ein Gefangenenlager. Tausende Soldaten vieler Nationalitäten wurden dort festgehalten, bevor es ab 1919 als Quarantänestation für Heimkehrer diente, und später als Unterkunft für Staatenlose, die durch die Gebietsaufteilungen des Versailler Vertrags keinem Land mehr angehörten.
In der Wirtschaftskrise der 1920er sahen viele Gießener ihren Status bedroht und wandten sich dem Nationalsozialismus zu. Von 1933 bis 1945 baute man mehr militärische Einrichtungen als je zuvor. So auch die Artilleriekaserne, die Waldkaserne und – ab 1935 mithilfe von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Häftlingen aus Konzentrationslagern – den Fliegerhorst. Juden, andere Minderheiten und politische Gegner wurden entrechtet, verfolgt, vertrieben und ermordet.
Mit dem Ziel, Gießens Eisenbahnverbindungen zu zerstören, legten Flächenbombardements Ende des Zweiten Weltkriegs rund 70 Prozent der Stadt in Trümmer.
Ein Bombenstück aus der Stadtkirche
Ein Stück zerborstenes Eisen
Die archäologischen Grabungen auf dem Kirchenplatz aus dem Jahr 2014 brachten, neben wichtigen Erkenntnissen aus der mittelalterlichen Keimzelle Gießen und aus der Zeit der Baugeschichte der alten Stadtkirche, auch Funde aus der Zeit der Zerstörung der Stadtkirche zu Tage. Das Trümmerstück einer Fliegerbombe wurde zunächst für ein Fragment eines Heizungsbehälters gehalten.
In den Angriffen auf die Innenstadt ab 1944 wurden sowohl Sprengbomben als auch Brandbomben eingesetzt. Die Stadtkirche, mitten in der Stadt erhielt dabei Treffer, die das Gebäude bis auf die Außenmauern zerstörten.
Bis heute noch werden in Gießen bei Bauarbeiten immer wieder Bomben oder Bombenreste in der Stadt gefunden, die unter Aufwendung hoher Kosten und umfangreicher Sicherheitsmaßnahmen durch den Kampfmittelräumdienst beseitigt werden müssen.
Stadtkirche unzerstört Stadtkirche Ruine Zerstörte Stadtkirche, letzter Gottesdienst
(Stadtarchiv Gießen)
Kirchenplatz Gedenkort - Erinnerung an Zerstörung
Im Dezember 1944 fanden die schwersten Luftangriffe auf Gießen statt. Bis dahin hatte sich die Bausubstanz der Stadt zwar stetig gewandelt, die Zerstörungen durch die Bomben waren jedoch so umfassend, dass vor allem das Zentrum der Stadt durch den daraufhin folgenden Neuaufbau einen vollkommen anderen Charakter erhielt. Dieses einschneidende Ereignis in der Stadtgeschichte und der „Stadtbildgeschichte" hat in der Gießener Erinnerungskultur einen festen Platz. Am Kirchenplatz finden alljährlich Gedenkveranstaltungen statt, die an die Zerstörungen erinnern und an die Opfer des Bombenkrieges.
Luftkrieg in Gießen
In über 30 Luftangriffen - die wesentlichen Angriffe fanden im Dezember 1944 statt - wurde Gießen zu ca. 70 Prozent zerstört. Von rund 5000 Gebäuden erlitten dabei 4000 mehr oder weniger starke Beschädigungen. Mehr als 800 Menschen starben.
Kriegsschadensplan (Vermessungsamt Gießen).
Was aus lokalgeschichtlicher Perspektive unvergleichlich erscheint, muss in das allgemeine Geschehen eingeordnet und vor dem Hintergrund der Vorgeschichte betrachtet werden. Am Tag des Hauptangriffs, als Gießen von 247 Flugzeugen angegriffen wurde, waren über 1000 weitere Bomber unterwegs zu anderen Zielen in Deutschland. Die ca. 1.200 t Bomben, die auf Gießen abgeworfen wurden, stellen vor dem Hintergrund von 650.000 t Bomben, die im Jahr 1944 von Flugzeugen abgeworfen wurden, eine verschwindend geringe Menge dar.
Erst brannte Warschau ...
Die ersten vereinzelten Angriffe auf Gießen begannen Anfang 1944. Bis zum November 1944 war die Belastung der Bevölkerung durch dauernde Fliegeralarme zwar hoch, es fanden jedoch keine massiven Luftangriffe auf die Stadt statt. Zu diesem Zeitpunkt waren seit den ersten Bombenangriffen auf deutsche Städte schon über vier Jahre vergangen. Diese ersten Angriffe im Mai 1940 waren die Antwort auf den deutschen Überfall auf die neutralen Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg am 10. Mai 1940. Dem vorausgegangen war der deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 mit massiven Bombenangriffen auf Warschau und andere polnische Städte.
Nicht zu vergessen ist die schon vor dem deutschen Überfall auf Polen erfolgte Unterstützung der Legion Condor für den Putschisten Franco, die zunächst äußerst geheim gehalten und als Erfindung der feindlichen Propaganda bezeichnet wurde. Seit Ende 1936 half so die deutsche Wehrmacht Franco, die gewählte spanische Regierung militärisch niederzuringen und machte gleichzeitig wertvolle Erfahrungen für den geplanten Krieg.
Die gegenseitigen „Vergeltungen" nach den erwähnten Angriffen 1940 steigerten sich kontinuierlich, wobei die deutschen Versuche, die Luftherrschaft über England u.a. mitmassiven Bombardements von London zu erreichen, scheiterten. Die gegenseitigen „Vergeltungen" nach den erwähnten Angriffen 1940 steigerten sich kontinuierlich, wobei die deutschen Versuche, die Luftherrschaft über England u.a. mit massiven Bombardements von London zu erreichen, scheiterten. Größere Erfolge erreichten die Briten erst, nachdem am 23. Februar 1942 der später umstrittene Arthur Harris, Chef des Bomber Commands, zusätzlich zu gezielten Angriffen auf Industrieanlagen auch Flächenbombardements gegen Städte anordnet.
Nach der Landung der alliierten Streitkräfte 1944 ändert sich die Luftkriegsstrategie. Um den deutschen Widerstand gegen den weiteren alliierten Vormarsch zu schwächen, wird die Behinderung des deutschen Nachschubes innerhalb des Reiches ein Ziel. Eine Zielliste wird aufgestellt, die besonderes Augenmerk auf Städte mit Bahnanlagen richtet, um den deutschen Nachschub zu behindern. Auf dieser Liste steht Gießen und seine Bahnanlagen auf Position 31 - das Schicksal Gießens ist damit vorgezeichnet.
60 Jahre nach den Ereignissen ist die Debatte über den Bombenkrieg neu entbrannt. Das Spektrum der Urteile reicht - je nach Standpunkt und Perspektive - von „völkerrechtswidrig" bis „notwendig", da Teil des Krieges, um ein beispielloses verbrecherisches System zu beseitigen.
(Nach Peter Schlagetter: Gießen im Bombenkrieg. Kassel 2004)
Aufmärsche
Historische Zeugnisse aus dem Stadtarchiv Gießen:
Aufmarsch der Gießener Zivilisten zu Ehren des Großherzogs 1911 Ausmarsch Gießener Truppen 1914 aus der Bergkaserne
SA-Betriebsgruppe Bänninger marschiert 1934 HJ marschiert 1934
Marschkolonne von Kriegsgefangenen 1916 auf dem Weg Marsch am 1. Mai 1934 – die Zivilgesellschaft marschiert mit.
zum Kriegsgefangenenlager
Verhaftete Gewerkschafter werden durch den Seltersweg geführt
Militarisierte Gesellschaft
Der Gießener Dichter und Zigarrenfabrikant Alfred Bock (1859-1932) reiht sich kurz nach Kriegsbeginn ein in die blutrünstige Mobilmachungs-Rhetorik vieler Künstler und Intellektueller. (Eckhard Ehlers)
6. September 1914
„Ich wünschte, ich könnte für meine Buben hinaus. Die beiden Jungen haben das Leben vor sich, das meine neigt sich seinem Ende zu. Man muss alles Weichmütige ersticken, es gilt nur das Ganze, das Leid des Einzelnen muss im Strom der Begeisterung untergehen."
Alfred Bock: Der Krieg 31.Juli 1914, Tagebuch (Deutsches Literaturarchiv Marbach,A: Bo 61.165a)
3. November 1914
„Wahrlich, so konnte es nicht weitergehen. Hier erkenne ich das Eingreifen einer höheren Gewalt, die ein sonst tüchtiges, zum Höchsten berufenes Volk aus dem Schlamm ziehen und reinigen will. Freilich eine furchtbare Reinigung, ein Gericht, wie es schrecklicher nicht gedacht werden kann, denn Berge von Leichen bedecken das Feld. Aus der blutigen Saat muß das Größte erstehen, ein einiges Volk, von einer gesunden, zusammenfassenden und grossartigen Politik geleitet, ein Volk, das sich auf sich selbst besinnt, das in der Wissenschaft seine führende Rolle behält, dass in der Kunst alles krampfhafte Aesthetentum ausscheidet und sich an dem emporrichtet,-was dem Empfinden des Volkes in des Wortes schönster Bedeutung begegnet. Sind das die Früchte, die der Frieden uns beschert, wollen wir die Erschütterungen hinnehmen, die uns der Krieg auferlegt hat. Noch sind wir aber vom Sieg weit entfernt."
Alfred Bock: Der Krieg 31.Juli 1914, Tagebuch (Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Bo 61.165a)
René Jakob und seine Familie
René Jakob stirbt am 29. 10. 2009 im Alter von 83 Jahren in Sarrebourg Frankreich. Er stammt aus einer jüdischen Familie, die in der Zeit zwischen 1871 und 1880 aus Lothringen nach Großen-Buseck zog. Drei Söhne der Familie kämpfen für Deutschland im Ersten Weltkrieg; zwei kehren zurück, einer fällt bei Verdun.
Julius Jakob, der mittlere Sohn, zieht mit seiner Frau Erika im Sommer 1924 nach Gießen. Er arbeitet als Metzger und betreibt mit seinem Bruder Max eine Metzgerei im Neuenweg. Julius und Erika gehören der liberalen jüdischen Gemeinde an. Am 3. August 1926 wird ihr einziger Sohn Kurt geboren. Er wächst in Gießen auf und besucht die Gießener Volksschule.
Die jüdische Religion spielt in seinem Leben keine große Rolle, doch leidet er als Schüler zunehmend unter Hass und Feindseligkeit von Altersgenossen. „In der Schule wurde ich fast jeden Tag geschlagen", erzählt er später. Die Diskriminierungen und Demütigungen nehmen zu und so beschließt die Familie 1937, Gießen zu verlassen. Zu dieser Zeit ist die Metzgerei bereits geschlossen, weil die städtischen Behörden den Gewerbeschein nicht mehr verlängern. Die Annahme, dies sei wegen der jüdischen Religionszugehörigkeit geschehen, erweist sich als falsch. Anlass ist die französische Staatsangehörigkeit der Familie.
Während andere jüdische Familien verzweifelt nach Möglichkeiten suchen, das Land zu verlassen, hat Familie Jakob kaum Schwierigkeiten, die Papiere für den Umzug nach Frankreich zu erhalten. Die Reise nach Lothringen ist ein Abenteuer, doch war die Ankunft in Frankreich für sie eine Befreiung. „Wie ein Vogel" habe er sich gefühlt, „der aus dem Käfig herausgelassen wird", berichtet René Jakob später (in Frankreich nimmt Kurt den Namen Rene an).
Doch muss die Familie erneut fliehen, vor der deutschen Besetzung Elsaß-Lothringens. Die Flucht endet im Westen Frankreichs, in der Nähe von Bordeaux. Auch dieses Gebiet wird 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Im April 1942 werden Julius und René Jakob verhaftet. René kommt wieder frei, doch der Vater bleibt in Haft und durchläuft elf Gefängnisse und Konzentrationslager. 1944 entgeht er durch die Warnung eines Freundes der Festnahme, doch seine Mutter wird am 20. Januar 1944 deportiert und wie weitere Familienangehörige in Auschwitz ermordet. René schließt sich der französischen Widerstandsbewegung an, wo man ihm jedoch als Deutschen zunächst mit Misstrauen begegnet. Am Kriegsende hält er sich für den einzigen Überlebenden der Familie und verpflichtet sich zum Militär nach Indochina. Kurz vor der Abreise erhält er die Nachricht, dass auch sein Vater überlebt hat.
Nach Gießen kommt René Jakob erst 2003, als drei Schülerinnen des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums im Rahmen des Geschichtswettbewerbs mit ihm Kontakt aufnehmen. Er reist nach Gießen. Die Schülerinnen erleben ihn als freundlichen Mann ohne jegliche Bitterkeit.
Kurt Jakob als Schüler, Einschulung (Stadtarchiv Gießen).
Julius Jakob als Soldat im Ersten Weltkrieg (Stadtarchiv Gießen).
Geschichten von Idealisierung und Trauer
Die Liebe zur Flotte: der Matrosenanzug
Zur deutschen Flotte! tönt's durch's deutsche Land,
Und jede Brust erglüht in heil'gen Feuern,
Und opferfreudig bietet jede Hand
Die deutsche Steuer für das deutsche Steuern,
Die Grenzen fallen zwischen Süd und Nord,
Kein Hader mehr, kein Brudermordend Schmähen,
Die alte Zwietracht stürzt sich über Bord,
Der Hauch der Einheit soll die Segel blähen:
Die deutsche Flotte sei in stolzer Wehre
Ein einig Deutschland auf dem weiten Meere!
(Albert Traeger, 1861 bei einer zum Besten der deutschen Flotte in Elbing veranstalteten Aufführung vorgetragen)
Kaum ein Kleidungsstück brachte die Begeisterung der Deutschen für das Militär, insbesondere zur Marine, stärker zum Ausdruck als der Matrosenanzug. Hundertausende Kinder und Jugendliche haben ihn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bis in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg getragen. Der Matrosenanzug war eines der wenigen Kleidungsstücke für Kinder und Jugendliche, Knaben und Mädchen, welches direkt von militärischer Kleidung, nämlich von der Marineuniform, angeregt ist. Die blauen oder weißen uniformartigen Kleidungsstücke waren ungemein praktisch und haltbar.
Durch das massenhafte Verkleiden von Kindern in Matrosenanzügen wurde die Verwendung des Kleidungsstücks allmählich aus dem direkt militärischen Zusammenhang gelöst und erhielt weitere Zuschreibungen, wie Freiheit und Jugendlichkeit, Erotik, Exotik, Mut, Abenteuerlust und Entdeckerfreude in einem männlichen Idealbild.
Matrosenanzug 1958 (Privatbesitz).
Vorschulklasse des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums ca. 1914
(Stadtarchiv Gießen).
Der Synagogenbrand
Passanten und Neugierige betrachten die brennende Synagoge in der Südanlage. Das Foto konnte entstehen, weil eine Person trotz Verbot auf den Auslöser drückte (Stadtarchiv Gießen).
Judenverfolgung in Gießen und Umgebung 1933-1945
Arbeit einer Schülergruppe der Liebigschule Gießen Jahrgangsstufe 12. In: MOHG NF 69/1984, S. 139-140.
Beim Abtransport der Juden aus der Goetheschule winkte Gustel Wagner einer ihr bekannten Person zum Abschied aus ihrem Wohnhaus zu.
„Da war'n sie dann in Zimmern, da war'n Seile gespannt und dann war da so'n Bettuch, und da war dann diese Familie und da diese Familie und daneben wieder ... zum Beispiel die Barnasses, die ich sehr gut gekannt hab', die sind ziemlich spät erst aus ihrem Haus in dieses Judenhaus Walltorstraße 48 gekommen. Da ha'm wir die aber noch besucht. Ich mein', es wa rgrausig, aber so war das nicht - sie mussten ihren Stern tragen, die Tochter - aber auch Hammerschlag, vom Hermann die Frau, war 'ne geborene Barnass, und die ist ja dann in Auschwitz umkommen. ... Der Otto Hammerschlag, der war nach dem Kriege als amerikanischer Offizier hier bei uns. Er hat nach seiner Mutter geforscht und genauso nach seiner Großmutter Barnass, die also am 17. September abtransportiert worden waren, und die war nach Theresienstadt gekommen mit ihrem Sohn, der aus dem 1. Weltkrieg - der war hochdekoriert, 'n Kriegsfreiwilliger – einen Schuß hatte, der nie ganz heilte, sondern immer eiterte und mußte versorgt werden."
„Und da mußte die Frau, weil ihr Sohn ja nichts tragen konnte, das bißchen, was sie überhaupt mitnehmen konnten, hat er dann 'n Rucksack aufgehabt, uns sie hat sich an so zwei Köfferchen – ach ich seh' die - ich kann es nie vergessen. Die kamen denn da in den Vierer- oder Sechserreihen aus dem Goetheschuls-Hoftor und gingen dann bei uns vorbei oben nach dem Güterbahnhof. Die wurden dann in Güterwagen verladen.
Und bei uns waren mehrere gute Bekannte von den Juden, wir wußten, daß sie an dem Tag abtransportiert wurden, und da hatten wir die Vorhänge wohl, die dünnen, vor, aber die Leute haben dann all 'se nochmal sehen wollen, und die haben ganz – also ungeniert, aber ganz genau gewußt, daß wir all da sind. Jeder, der vorbeiging, es war grauenhaft, winkte nochmal."
Strohlieferung für die Massenquartiere im Zuge der Deportation
der Gießener Juden (Stadtarchiv Gießen).
Tagebuchaufzeichnungen eines Gießener Gymnasiasten
Gießen, den 10. November 1938
Heute war ein großer Tag. Die Anzeichen kommender Ereignisse gaben sich schon dadurch kund, daß es hieß, die Marburger Synagoge sei aufgrund des Pariser Gesandtenmordes angezündet worden. Ich machte mir darüber keine weiteren Gedanken und ging in die Schule. Nach der ersten Stunde erscholl der Ruf: „Die Synagoge brennt!" Wir stürzten hinaus und liefen zu der nahen Synagoge gegenüber dem Theater. Viel war jedoch nicht zu sehen. Nur aus dem Dach quoll eine kleine Rauchwolke. Es stand natürlich fest, daß der Brand - wie sicherlich auch in allen übrigen Synagogen des Reiches - künstlich angelegt war. Bedauernd, daß der Brand nicht größer war, kehrten wir wieder in das Schulgebäude zurück. Die zweite Stunde verlief ruhig. Kaum war das Schellen der Pausenglocke verklungen, da ertönte wiederum: „Die Synagoge brennt!" Abermals rannten wir hin - und himmelhoch loderten die von schwarzem Qualm umsäumten Flammen aus den seitlichen hohen Fenstern, in hellen Lohen flatterte die Glut aus allen Öffnungen der Vorderfront. Eine jubelnde Begeisterung hatte die zuschauende Menge ergriffen. Die Wut gegen die Juden machte sich Luft. (...) Lachende Gesichter blickten einen überall an: Das war die rechte Festfackel zum 9. November! (...) Da tauchte vor uns Studienrat Appels braune Glatze auf: „Los, los! Rein zum Unterricht!" (...) Wir protestierten darauf energisch. Alle Klassen waren bei der Brandstelle, und nur wir sollten hier für nichts und wieder nichts warten! Wir hauten ab und ließen ihn stehen. (...) Wir eilten also wieder zur Brandstelle, die noch von einer Menschenmenge in schwarzem Gewimmel umgeben war. (...) Da kam plötzlich eine Bewegung in die Menge. Was ist los? Die andere Synagoge in der Steinstraße ist auch angezündet! Hurra! Los, sofort hin! Ganz Gießen war im Handumdrehen auf den Beinen. (...) Noch waren keine Flammen zu sehen. Aber in dichten, geballten Schwaden zog Qualm aus allen Ritzen und Fugen. Immer stärker wurde der Rauch. Die enge Straße war ganz überdacht davon. Da, klirrend sprangen Scheiben aus den orientalischen Fenstern. Befreit schlug zuckendes Gezüngel hervor. Ein hundertfaches „Ah, Oh!" erscholl aus der Menge, begleitet von begeistertem Beifallklatschen. (...) Eine Feuerspritze stand am anderen Straßenende und bewahrte die sehr gefährdeten Nachbarhäuser vor Schaden. Witze und Gelächter allenthalben. Da: ein allgemeines Gebrüll — hell flog eine erlöste Flamme den First entlang, gefolgt von brausenden Waberlohen. Das Dach brannte! (...)Nach diesem hinreißenden Schauspiel machten wir uns eilends auf den Weg ins Innere der Stadt, aus dem schon allerlei Gerüchte zu uns gedrungen waren. In der Neustadt wimmelte es von Menschen. Schwarz ballten sie sich vor dem Laden des Textilgeschäftes Zwang. Wir drängten uns heran. Halt: Klirrendes Krachen. Beide Schaufensterscheiben prasselten in tausend Scherben zusammen. Halbwüchsige Kerle, Schüler, sogar Gymnasiasten, dazwischen Männer in blauen Arbeitsanzügen drangen vor. Tobendes Lärmen, Schreien: Nieder mit den Juden! (...) Man schlug alles kurz und klein. Nicht gerade angezogen von diesem Anblick zogen wir weiter. Nun waren wir in der Marktstraße. Eine Horde von Schülern, untermischt von Erwachsenen, kam uns johlend entgegen. Wo wollten sie hin? Wir folgten ihnen. Schreiend machten sie vor dem Laden eines jüdischen Metzgers halt. Im Nu waren die Holzläden von dem Schaufenster her untergerissen. Schon zersprang die Scheibe unter handfesten Steinen. Unter vereintem Druck gab die Tür nach und gab den Laden der Zerstörung preis. (...) Einer schrie: „Beim Pferde-Kessler (Pferdemetzger Kessler) hagelt's auch!". Also: Auf in die Neustadt. Dort dasselbe Bild. Im Schaufenster wüteten Leute, darunter mehrere Gymnasiasten. Die Gaststätte war ein Trümmerfeld. Allenthalben Menschenmassen. In der Neuen Bäue krachte es auch. Vom „Bankinstitut Herz" polterten klirrend Fensterscheiben und zerbrochene Schilder; zerissene Rechnungen lagen auf dem Pflaster verstreut umher. Ein wüstes Bild! Was war aus den zahmen Gießenern geworden!? Überall hörte man: Das schadet den Juden nichts! Die Polizei ging vorüber und schaute in die Luft. (...) Nachmittags war ich mit Heinz in der Stadt. Die zerstörten Judenläden sind schon alle mit Brettern verschalt und gegen Plünderung bewacht. Die qualmenden Ruinen der Synagogen bildeten ein dichtumlagertes, malerisches Bild. Vater war heute dienstlich in Friedberg und berichtete. Dort gibt es noch viele Juden. Ganz übertrieben hätte man da gehaust. Die Straßen wären verstopft von Mobiliar gewesen, das die wütende Bevölkerung aus den Wohnungen der Juden geworfen hätte. Bücherhaufen, kaum ein unbeschädigter Einrichtungsgegenstand sei unter dem geplünderten Gut gewesen. In Frankfurt muß es, was man so hört, auch toll ausgesehen haben. Selbst ganze Warenhäuser seien geplündert worden. Am schlimmsten soll es in Butzbach zugegangen sein. Heute nacht noch werden sämtliche verhafteten Juden — und das sind alle männlichen Juden in Deutschland — in ein Konzentrationslager zusammengebracht. Man sagt, es geschehe zur Schutzhaft. (...)
Prof. Dr. Reiner Hamm, Abitur 1939, Erinnerungen an eine dunkle Zeit. In: Epistula 40/1970, S. 16-19.
Trauernde Witwen
Die Skulptur der trauernden Witwe, die heute an der Licher Gabel steht, ist 1997 im Zusammenhang einer Ausstellung „Erinnerungen an die Endzeit" entstanden - gesägt aus einem Klotz Trauerweide. Sie war zunächst nicht für die Anlage an der Licher Gabel vorgesehen. Als die Entscheidung dafür gefallen war, wurde die Figur in Hirzenhain in Eisen gegossen und am Tag des Denkmals (11. September 2005) zum Thema Krieg und Frieden enthüllt. Kritik kam im Vorfeld von vielen Seiten, und auch am Tag der Aufstellung wurde der Künstler zusammen mit seinen Helfern zunächst einmal von der Polizei kontrolliert, weil immer wieder die Vermutung im Raum stand, der Ort würde zu politischen Aktionen genutzt. Die Enthüllung konnte dann tatsächlich mit Redebeiträgen stattfinden. Die allgemeinverständliche Bildsprache der Skulptur ermöglichte einen lebendigen Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart. Seitdem ist der Ort an der Licher Gabel, der früher durch das Greifdenkmal immer wieder zu politischen Demonstrationen Anlass gegeben hat und an dem hitzig über die jüngere deutsche Geschichte gestritten wurde, befriedet.
Trauernde Witwe, Matthes von Oberhessen 1997/2005 (transit giessen).