1950er Jahre - heute

Stadt der Arbeitsmigranten

Vom Bosporus an die Lahn: der Schuhputzkasten ist ein Familienerbstück, das schon der Großvater des Besitzers  in Istanbul benutzte. Der als Gastarbeiter gekommene Nachkomme konnte die alte Familientradition mit einem eigenen Geschäft in Gießen fortsetzen.

Ab den 1950er Jahren zogen Gastarbeiter aus Südeuropa, vom Balkan und aus der Türkei nach Gießen, wo sie anfangs in Wohnheimen auf Werksgeländen lebten. Mit der Zeit wechselten viele in Privatwohnungen, holten Angehörige nach und bereicherten die Stadt mit ihren Kulturen, Sprachen und Speisen.

Nach ihrem Erwerbsleben in Deutschland wollten viele Migranten der ersten Generation in ihren Herkunftsländern beerdigt werden. Erst langsam entstand der Wunsch, in der neuen Heimat der Familie ein Grab zu haben. Das islamische Gräberfeld auf dem neuen Friedhof bietet seit Anfang der 1990er Jahre die Möglichkeit, dort nach eigenem Ritus bestattet zu werden.

Schuhpflegekasten ayakkabi boya sandiği

Gepflegte Schuhe überall


(StadtLabor Gießen).

Der Kasten ist aus Holz gefertigt, die Intarsien sind aus Perlmutt und farbig abgesetztem Holz. Messingbeschläge und die Messingkappen der Flaschen lassen ihn glänzen.
Der Großvater des jetzigen Besitzers hat ihn in Istanbul für sein Geschäft benutzt. Der Enkel erinnert sich, dass die Rede davon war, dass der Großvater ihn aus Syrien für sein Geschäft gekauft hatte.
Mit Schuhpflege im Freien konnte man im alten Istanbul eine Familie ernähren, weil die Nachfrage hoch war. Die Schuhe wurden lange getragen und sie waren aus Leder gearbeitet. Im Staub der Stadtwege nahmen sie Schaden, wenn sie nicht regelmäßig und sorgfältig gepflegt wurden. Zugleich zeigte der Zustand der Schuhe des Status der Träger an. Glänzende Schuhe standen für feine Lebensart und Selbstbewusstsein – niemals hätte man mit staubigen Schuhen sich bei einer Behörde vorgestellt oder ein Geschäft verabredet.
Der Enkelsohn ging nach Deutschland zum Arbeiten und bekam den Kasten als Familienerbstück mit. In der ersten Zeit stellte er ihn bei einem Onkel unter. Seit er selbst ein Geschäft für Schlüsselmachen und Schuhreparatur eröffnete, hat der Schuhputzkasten einen Ehrenplatz im Geschäft als Wahrzeichen der Familientradition.
 

Eine neue Infrastruktur

Die Arbeitsmigranten kamen nicht nur mit ihrer Arbeitskraft, sie haben auch handwerklichen Fähigkeiten, Team- und Familiengeist oder Service- und Handelstraditionen mitgebracht. Viele haben sich so früh wie möglich mit kleinen Geschäften selbstständig gemacht; oft halfen familiäre Beziehungen und Netzwerke, das Geschäft aufzubauen oder zu betreiben.
Klassische Branchen nicht nur in Gießen sind Reparaturservice, Obst- und Gemüsehandel, sowie Gastronomiebetriebe. Auch Reisebüros, Friseurgeschäfte, Gerüstbau und Telefonläden sind dazu gekommen.

   


(
transit giessen, M.S.).
 

Mitgebrachtes

Erinnerungsstücke aus der vorherigen Heimat werden sorgfältig gehütet. Dazu gehören Trachten, die man zu traditionellen und familiären Festen anlegt.
Familiäre Erinnerungsstücke sind nicht allein Dinge, die zur Arbeit gehören, wie der Schuhputzkasten, sondern auch solche, die in der privaten Welt eine Rolle spielen.

   
(transit giessen).

Die Familien bewahren Gewänder aus ihren Herkunftsländern auf, die bei besonderen Anlässen getragen werden.

   
(transit giessen).                                                                                                         (Stadtarchiv Gießen)

Schatzkästchen mit Erinnerungsstücken:

*Holztruhe aus Moskau vom Cousin geschenkt
*Keramikteil von der Mutter bemalt
*kleine Pharaonenstatue aus einem Museumsladen von der Schwester mitgebracht
*Miniatur-Badeschuhe vom Großvater aus einem Kern geschnitzt
*2 Ringe von der Mutter und der Großmutter
*Fläschchen mit Steinen aus Österreich
*elektronisches Teil vom Schreibtisch des Bruders entwendt
*getrocknete Rose von der Beerdigung der Großmutter
Das Kästchen wird immer in der Nähe des Bettes aufbewahrt.

Auch mitgebracht sind Handarbeitsgeräte:
Mit einem Mekik (türkisch) oder Mekük (kurdisch), Deutsch: Occhi-Schiffchen, werden feine Spitzengewebe hergestellt.

  
(Wikipedia cc-by-sa 3.0 Iota 18.03.2006).             (transit giessen).

„Wer gekommen ist, hat immer was zum Handarbeiten dabeigehabt. Für unterwegs, und weil man zeigt, dass man sich pflegen kann und eine Familie versorgen kann. Und dass man immer was verdienen kann,“ berichtet eine Frau, die vor 10 Jahren aus der Türkei emigriert ist, und zieht ein Beutelchen mit Handarbeitssachen aus der Tasche: „Auch heute haben wir immer etwas dabei.“


Familienfoto aus der Geldbörse einer Frau aus dem Irak. Sie ist daruf als kleines Mädchen mit ihren Tanten abgebildet.
(transit giessen, Gruppe Lebensfäden).

 

Gastarbeiter in Gießen: Arbeit für Migranten

Das erste Anwerbeabkommen der Bundesrepublik für ausländische Arbeitsneh­mer wurde 1955 mit Italien geschlossen. Wegen des Arbeitskräftemangels wurden bald auch Arbeitskräfte aus Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Portugal (1964), Marokko, Tunesien und Jugoslawien (Ende der 1960er) angeworben. Anfang der 1970er gab es einen Anwerbestopp aus diesen Ländern. Ab den 1990er Jahren kamen verstärkt innereuropäische Arbeitsmigranten aus den östlichen Ländern hinzu. Der Begriff Gastarbeiter war zuerst nicht
üblich. Erst ein Preisausschreiben des WDR zur Namensfindung mit 32.000 Eingängen führte zur Konzentration auf die Begriffe Gastarbeiter und ausländische Arbeitnehmer. Da Gast und Gastgeber die Arbeitsbeziehungen nur unzureichend beschreibt, wird heute meistens der Begriff Arbeitsmigranten benutzt.

In Gießen wie in anderen Städten arbeiteten die angeworbenen Männer zunächst im Straßenbau, bei der Straßenreinigung und Müllabfuhr oder im Baugewerbe. In Gießen ist zudem die Arbeit in der Metallverarbeitung belegt. Angeworbene Frauen waren in der Textilbranche und verarbeitenden Industrie tätig, einige fanden Beschäftigung in der Reinigung von Privathaushalten - oft auch ohne Versicherung, was sich nach einem arbeitsreichen Leben jetzt fatal auf die Renten der ersten Generation auswirkt.

Im Allgemeinen war die Arbeit der Angeworbenen eher schmutzig, schwer oder monoton. Unterstützende Maßnahmen wie Sprachkurse zum Beispiel waren nicht vorgesehen, ging man doch davon aus, dass sie ihre starken jungen Jahre hier arbeiten und dann wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren würden.
Es kam anders, sie holten ihre Familien nach, wurden hier heimisch und heute haben 25 % der Gießener einen Migrationshintergrund (inkl. der ansässig gewordenen Flüchtlinge). (Sharifi 2011)

Es wurde in den frühen Jahren der Arbeitsmigration nicht für wichtig erachtet, zu dokumentieren, was geschah. So weiß man heute nicht genau, wie die Ersten wohnten und wo es Männerwohnheime gab. Wie es ihnen in Gießen erging und was sie nach der Arbeit und am Wochenende machten?
Landsmannschaften und Fußballclubs werden in Gesprächen oft genannt, wenn es darum geht, wie man mit den Mühen der Trennung von der Familie und der Isolation fertig wurde.

   

Fotos zum Verschicken an die zurück gebliebene Familie (Gazi Gözüacik).
 

Neue Gießener, neue Sprachen, neue Religionen

Nach dem Anwerbestopp Anfang der 1970er Jahre kamen weniger neue Arbeiter hinzu, dafür kamen die Familien – oft nach langen Jahren der Trennung. Die Arbeitsmigranten bildeten Landsmannschaften, Clubs und Vereine – eine neue Infrastruktur entstand mit ihren Geschäftsgründungen.
Nicht nur neue Speisen, Haushaltswaren und Kleidungsstile kamen hinzu, auch neue Religionen etablierten sich in Gießen. Eine islamische Gemeinschaft existiert am Ort bereits seit 1962, inzwischen gibt es vier eingetragene Moscheen unterschiedlicher religiöser Ausrichtungen und zahlreiche Religionsgemeinschaften, unter anderem orthodoxe Kirchen, einen buddhistischen Tempel, eine jesidische und eine Bahai Gemeinde.

 

 
(transit giessen, M.S.).
 

Neue Stadtteile

Mit dem Heimischwerden der Arbeitsmigranten haben einige Stadtteile Veränderung erfahren. So gibt es in Wieseck eine große kurdische Gemeinschaft und einen Bezirk, der vom Wandel der Innenstädte durch die Aufgabe von Einzelhandelsbetrieben besonders betroffen war. Er hat sogar durch die Migranten einen neuen Namen bekommen: Das sogenannte Döner–Dreieck mit einer großen Zahl von Gastronomiebetrieben.


(transit giessen, M.S.).

Zum wirtschaftlichen Erfolg vieler Migranten oder ihrer Nachkommen gehört auch der Bildungsaufstieg. Inzwischen, in der 2. und 3. Generation, sind die Kinder und Enkel auch an den Hochschulen und in allen hochqualifizierten Berufen vertreten.
Angesichts der generationenlangen Tradition von Migranten und ihren Nachkommen am Ort ist es schwer nachvollziehbar, dass diese Gruppe von Bürgern in den Institutionen des kulturellen Gedächtnisses kaum vertreten ist.
Die Erinnerungen und Objekte zu diesem Teil Gießener Geschichte bleiben noch zu sammeln.

  
(transit giessen, M.S.).


Geschichten vom Ankommen

Draußen sitzen beim ersten Sonnenstrahl

Mit der kulturellen Veränderung durch Arbeitsmigranten wird häufig das Draußensitzen angeführt, die Erweiterung der Geschäfte durch Sitzplätze davor. Dass heute der Außenausschank fast der Regelfall ist, dazu hat auch die Veränderung der Innenstädte durch Fußgängerzonen beigetragen. Die Bewirtung im Außenbereich – nicht in einem geschlossenen Bier- oder Kaffeegarten, wie es zuvor durchaus im Sommer vorkam – sondern ohne Hecken und Zäune auf dem Bürgersteig vor dem Laden, zu diesem mediterranen Flair haben wohl die Läden der Migranten das Ihre beigetragen.
Die längste gastronomische Tradition haben die italienischen Eisgeschäfte mit ihren Eiskreationen in fantasievollen Glasbehältern.
 

Gartenarbeiter ohne Adresse und strenge Eltern

Gartenarbeiter ohne Adresse
Die Eltern des Halbwüchsigen waren zum Arbeiten nach Deutschland gegangen. Die jüngeren Geschwister hatten sie mitgenommen, der große Sohn blieb zurück in der Türkei, dort sollte er bei den Großeltern leben und ihnen helfen. Er wurde ohne elterliche Aufsicht ein wenig wild, wie er es ausdrückt. Deshalb holten ihn die Eltern nach Deutschland in ihre Nähe. Im Gärtnereibetrieb eines Onkels in Lollar bekam er Arbeit und lebte dort mit Kollegen in einem Arbeiterheim auf dem Werksgelände. Der Chef und Onkel fuhr sie immer mit den Arbeitsgeräten zum Einsatzort und holte sie am Spätnachmittag wieder ab.
Einmal klappte es nicht, der Wagen kam nicht zum Abholen. Sie warteten, bis die Besitzerin des bearbeiteten Gartens ihnen anbot, sie mit ihrem Auto nach Hause zu fahren. Da stellte sich heraus, dass sie dort lebten, aber die Adresse nicht wussten. Die Frau fuhr mit ihnen die Gegend ab, aber sie fanden ihr Wohnheim nicht.
(transit giessen, Bericht 2. Erinnerungstreffen Nordstadt 2018)

Strenge Eltern
Eine Frau erzählt, dass sie bei ihrer Großmutter in der Türkei bleib, als ihre Eltern zum Arbeiten nach Deutschland gingen. Sie hatte eine schöne Kindheit bei der Großmutter auf dem Land. Bis diese starb, dann holten die Eltern die inzwischen halbwüchsige Tochter nach. Ab dann war ihr Leben schwer, wie sie sich erinnert. Es gab jüngere Geschwister, die nach ihrer Wahrnehmung alles durften, während die Eltern keine Erfahrung mit einer halbwüchsigen Tochter hatten und eine Mauer von Verboten und Anweisungen um sie errichteten. Ständig gab es Streit und sie hatte Heimweh. Bei der Großmutter war sie elternlos gewesen, jetzt war sie fremd in der eigenen Familie und der fremdsprachigen Umgebung.
Als zerrissen schildert sie ihre Vergangenheit. Sie brauchte lange, um sich mit den Eltern auszusöhnen und hier anzukommen.
(transit giessen, Bericht 2. Erinnerungstreffen Nordstadt 2018)
 

Bestattungen in Gießener Erde

Über viele Jahre hinweg haben die Familien von Gastarbeitern ihre Verstorbenen, wenn es nur irgendwie möglich war, in das Herkunftsland überführt und dort in ihrem Herkunftsort oder bei den Vorlebenden begraben. Bei Gastarbeitern aus islamischen Ländern war der Grund dafür nicht allein die Verbundenheit mit der alten Heimat. Es waren auch die Begräbnisvorschriften, die ein muslimisches Begräbnis nicht ermöglichten. Besonders die Sargpflicht stand dem Gebot entgegen, Verstorbene in ein Tuch gewickelt der Erde zu übergeben, und die Regel, dass Verstorbene frühestens 48 Stunden nach dem Ableben begraben werden dürfen, stand dem islamischen Gebot entgegen, Verstorbene spätestens nach 24 Stunden zu begraben.
In einigen Großstädten gibt es islamische Gräberfelder schon lange, so z. B. in Hamburg seit 1943 oder München seit 1954. Viel später erst zogen andere Großstädte nach – so z. B. Frankfurt in den 60ern. Von den mittleren Städten in Hessen war Gießen Mitte der 90er die erste, die ein muslimisches Gräberfeld einrichtete.
Bis heute wird das muslimische Gräberfeld auf dem Neuen Friedhof mehrheitlich von Muslimen aus Bosnien, Persien und Arabien genutzt.


(transit giessen).