19. Jahrhundert

Militär- und Bürgerstadt

Die Zeit nach der Napoleonischen Herrschaft stellte die Gießener vor große gesellschaftliche Herausforderungen. Die wachsende Industrie und Universität, die neuen Mitbürger und wechselnden Militärgarnisonen machten das städtische Miteinander komplexer. Oft verlief es weniger idyllisch, als auf dem alten Bild der Frankfurter Straße dargestellt.

Außerhalb des eingeebneten Festungsrings baute man auf dem Seltersberg eine erste Kaserne. Die Einquartierung der Soldaten in Privathaushalten sollte ein Ende haben. 1820 abgezogen und später erneut stationiert, spielte das Militär ab dem Beginn des Deutschen Kaiserreichs 1871 eine wesentliche Rolle in allen Entwicklungen.

In der Zeit des Vormärz entstand aus der Unterdrückung demokratischer Bewegungen neues politisches Potenzial, das die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts konfliktreich prägen sollte.

Militär- und Bürgerstadt

Die Seltersbergkaserne

Das Bild einer schönen neuen Kaserne

Ernst Bieler: Seltersbergkaserne, 1819 (HStAD, Original in Privatbesitz).

Das kleinformatige Bild führt in eine heute nicht mehr existierende Situation am Seltersberg und der Frankfurter Straße. Es hält damit nicht nur Verlorenes fest, sondern bietet Angaben zu Entwicklung und Nutzung des einst Gegebenen im Rahmen der Stadtgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts.

Im Zusammenhang mit der beherrschenden Kaserne in der oberen Mitte sind die untereinander gleichen, symmetrisch angelegten Wachhäuser zu sehen. Das rechte barg später das chemische Laboratorium der Gießener Universität, später die Wirkungsstätten Justus von Liebigs. Heute ist es das Liebigmuseum. Dieser Prospekt wird ab dem Vordergrund in einer geschickten Komposition vorbereitet. Dieser, die ganze Bildbreite einnehmende Landschaftsausschnitt, wird von Personen belebt, welche ihrerseits zum gegebenen Kontext gehören, denn er zeigt zum Teil im Gras gelagerte Soldaten, die den waschenden Frauen zusehen. Andere sind damit beschäftigt, ein Gefährt mit Rädern zu schieben, ein Soldat reitet auf der ausgebauten Frankfurter Straße, die in die Ferne führt. Der Maler wählt sommerliches Licht, blauen Himmel und eine nahezu idyllische Vordergrundszene, die wenig vom realen Soldatenleben im Umfeld einer Kaserne zeugt. Diese Ansicht zeigt aber auch den Beginn der ersten größeren Stadterweiterung im Umkreis der Kaserne, entlang der Frankfurter Straße und der Universitätsstraße, der späteren Liebigstraße, auf dem Seltersberg. Dort errichteten zunächst vornehmlich Angehörige der Universität und der fürstlichen Verwaltung neue Häuser. (Christa Benedum)
 

Nie mehr Einquartierungen

Die dargestellte Kaserne auf dem Seltersberg könnte man als erste Umwandlung eines militärischen Gebäudes in eine zivile Nutzung bezeichnen. Ursprünglich angelegt wurde sie, um die Gießener Bürger von den immer wiederkehrenden militärischen Einquartierungen zu entlasten. Die Stadt wollte dieses Problem gemeinsam mit der Landesverwaltung lösen und bewilligte aus ihrem Haushalt einen Betrag von 80 000 fl. zum Bau einer Kaserne auf dem Seltersberg. Ziel war es, durch den Kasernenbau die Einquartierungen ein für alle Mal abzulösen. 1817 gebaut und 1819 bezogen stand die Kaserne 1821 schon wieder leer, als das Militär aus Gießen abgezogen und nach Worms verlegt wurde. Das Gebäude wurde danach an die Universität übergeben. Es war somit eines der ersten militärischen Zweckbauten, die durch Abzug von Truppenteilen in eine zivile Nutzung überging.


Städtische Kaserne an der Grünberger Straße (Stadtarchiv Gießen).

Größere Truppeneinheiten kamen erst wieder ab 1867 in die Stadt, die nun auch wieder eine feste Garnison erhielt. Damit stellte sich das Problem der Unterbringung der Soldaten erneut. Zunächst wurde das Zeughaus zur Kaserne umgebaut, doch mit wachsender Garnisonsstärke mussten erneut Soldaten in Bürgerquartier gelegt werden. Nun wandte die Stadt auf Bitten der Militärverwaltung noch einmal beträchtliche Geldmittel auf und errichtete 1896 auf städtischen Grundstücken die sogenannte „Städtische Kaserne“. Doch erst mit Errichtung der Bergkaserne zwischen Licher- und Grünberger Straße waren die Unterkunftsprobleme des Militärs für einige Zeit gelöst.

 
Neue Kaserne entlang der Grünberger Straße (Stadtarchiv Gießen).


Ausbreitung des Militärs

Die Expansion des Militärbereichs in Gießen war am einfachsten in östlicher Richtung entlang der Grünberger Straße möglich. Die dort von der Allgemeinheit seit dem Dreißigjährigen Krieg genutzten Triebviertel wurden im 19. und 20. Jahrhundert der allgemeinen Nutzung entzogen. Teile davon konnte die Stadt für militärische Zwecke zur Verfügung stellen. Und so dehnten sich Kasernenanlagen in Gießen hauptsächlich entlang der Grünberger- und Licher Straße aus.
 

Garnisonen und Bürger: Universität übernimmt das Kasernengebäude

Die historische Überlieferung berichtet von Streit und Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der beiden, das Stadtgeschehen prägenden Institutionen, der Universität und der Garnison. Auch nach dem Bau der Kaserne hörten die Querelen nicht auf, sondern gipfelten 1821 in einer gewaltigen Schlägerei, die den hessischen Kriegsminister angeblich veranlasste, die Soldaten noch im gleichen Jahr nach Worms zu verlegen. Die schöne neue Kaserne stand nun leer. Doch dauerte es nicht lange und die Gebäude wurden auf Drängen von Professoren und Bürgern der Universität zur Verfügung gestellt. Hauptnutzerin wurde die Medizinische Fakultät, die bis dahin im Anatomiegebäude am Brandplatz räumlich sehr beengt untergebracht war. Das weitläufige Gebäude wurde für diese Zwecke umgebaut. Auf der rechten Seite wurden das akademische Hospital, und, durch eine Zwischenmauer abgetrennt, auf der linken Seite die Universitätsbibliothek und die naturwissenschaftlichen Sammlungen untergebracht. Das linke Wachgebäude diente als Wohnung des Direktors der Universitätsbibliothek und im rechten Wachgebäude wurde das chemische Laboratorium der Universität eingerichtet.
 

Erneuerer aus dem Bürgertum

Carl Follen (1796-1840), Radikaler der Zeit des Vormärz, musste wegen seiner politischen Position von Deutschland in die USA fliehen.

Follen: "Wir müssen die Volksfreiheit erlangen durch jedes Mittel, welches nur immer sich uns bietet. Aufruhr, Tyrannenmord und alles, was man im gewöhnlichen Leben als Verbrechen bezeichnet und mit Recht straft, muss man einfach nur zu den Mitteln zählen, ... zu den Waffen, welche gegen die Tyrannen allein uns übrig bleiben."

Porträt Carl Follen (Stadtarchiv Gießen).

 

 

Justus Liebig (1803-1873), entwickelte die Chemie zu einer eigenständigen Wissenschaft und begründete die moderne Mineraldüngung.

Liebig: Liebig an Merck: „Ich bin mit meinen Kindern übereingekommen, unseren Briefadel in die Tasche zu stecken; die Adelskaste gehört unserer Zeit nicht an, es ist ein innerlich verfaultes Institut, was sich überlebt hat; mir war derselbe von Anfang an wie ein glühendes Eisen auf vier Stecken, denn er konnte weder zu meinem Wohl noch zu meiner Befriedigung, noch zu meiner Kinder Glück das geringste beitragen. Erst seit dieser unglücklichen Erhebung in den Adels-stand weiß ich, was Neid und Hass ist, früher habe ich diese Schwäche bei den Menschen garnicht gekannt.“ (zit. nach Munday Diss.)
Porträt Justus Liebig (Stadtarchiv Gießen). 

 


Georg Büchner (1813-1837), Dichter und Revolutionär, musste wegen seiner umstürzlerischen Forderungen nach Frankreich fliehen.

Büchner: "Friede den Hütten – Krieg den Palästen"

Porträt Georg Büchner (Stadtarchiv Gießen).

 

 

 

 

Wilhelm Liebknecht (1826-1900), Mitbegründer der Sozialdemokratie, musste wegen seiner Beteiligung an der Revolution von 1848 vor den Justizbehörden nach England fliehen.

Liebknecht: „Wissen gibt Macht, und weil es Macht gibt, haben die Wissenden und Mächtigen von jeher das Wissen als ihr Kasten-, ihr Standes-, ihr Klassen-Monopol zu bewahren, und den Nichtwissenden, Ohnmächtigen — von jeher die Masse des Volkes — vorzuenthalten gesucht.“ (Wilhelm Liebknecht: Wissen ist Macht - Macht ist Wissen: Festrede gehalten zum Stiftungsfest des Dresdener Bildungs-Vereins am 5. Februar 1872).

Porträt Wilhelm Liebknecht (Stadtarchiv Gießen). 

 

 

 

 

Von der Kaserne zum sozialen Wohnprojekt

Das Militärische blieb in Gießen ein bestimmendes Element. Gesteigert noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als zu den anwesenden amerikanischen Stationierungsstreitkräften noch die Bundeswehr hinzukam. Große Teile der Stadtgemarkung waren der kommunalen Planungshoheit entzogen, weil sie der militärischen Nutzung unterlagen. Dies änderte sich ab den Neunziger Jahren, als nach dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges die Notwendigkeit starker Militärkräfte für Gießen und sein Umland nicht mehr gegeben war. Soldaten wurden nun abgezogen und ganze Standorte geschlossen.

Bei den Überlegungen, wie die nun anfallenden Gebäude und Flächen genutzt werden konnten, entstand auch die verrückte Idee des Wohnprojekts Pendelton Barracks.

Die Ziele: Wohnen in einer ehemaligen Kaserne, gemeinsames Miteinander von Familien und Wohngemeinschaften für Studierenden, Gemeinschaftsräume für Feiern und Kulturveranstaltungen. Diese verrückte Idee wurde mit Hilfe der Stadt Gießen und dem Land Hessen realisiert. Heute bestehen dort 90 Wohnungen für Sozialmieter, WGs für Studierende, es gibt dort das Mietercafé, den Kletterbunker, das Klettercafé und das Zentrum für interkulturelle Bildung und Begegnung. In die alten Kasernen ist neues, buntes Leben eingezogen.


Angemalter Bunker bei der GSW (Stadtarchiv Gießen).
 

Geschichten vom Aufbruch

Büchner: Der hessische Landbote

„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!
Im Jahr 1834 sieht es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. (…)
Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten? Das ist die Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die anderen Beamten sind Männer, die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in kraft zu erhalten. Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräte und Regierungsräte, Landräte und Kreisräte, Geistliche Räte und Schulräte, Finanzräte und Forsträte u.s.w. mit allem ihrem Heer von Sekretären u.s.w. Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen der Witwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben. Sehet was die Ernte eures Schweißes ist.“ 
(Georg Büchner: Der Hessische Landbote, Erste Botschaft. Darmstadt, im Juli 1834. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/416/1).

Lieder von Revolution und Aufbruch

"Gerade durch meine langjährige und enge Verbundenheit mit Gießen war und ist die Freude über die Ausstellung „12 x Gießen“ groß. Die Ausstellungsstücke und deren Präsentation machen Besucher*innen neugierig und bieten für alle Bürger*innen einen leichten Zugang. Deshalb habe ich auch gerne einen kleinen musikalischen Beitrag zur Ausstellung geleistet."

Dietlind Grabe-Bolz, geboren 19. Juni 1957 in Kassel, ist seit 2009 Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen. Sie lebt seit ihrem fünften Lebensjahr in Gießen. Nach dem Abitur studierte sie von 1976 bis 1982 an der Justus-Liebig-Universität Gießen Politik und Deutsch für das Lehramt an Gymnasien. Daran anschließend absolvierte Dietlind Grabe-Bolz ihr Referendariat und studierte anschließend von 1984 bis 1987 Musik an der Gesamthochschule Kassel. Von 1988 bis zur Wahl als Oberbürgermeisterin arbeitete sie als hauptamtliche pädagogische Mitarbeiterin an der Kreisvolkshochschule in Gießen.

Liedtext "Oh - hängt ihn auf"

O hängt ihn auf
O hängt ihn auf
O hängt ihn auf den Kranz voll Lorbeerbeeren Ihn, unsern Fürst
Ihn, unsern Fürst, den wollen wir verehren
O hängt ihn auf! Ihn, unsern Fürst
Ihn, unsern Fürst, den wollen wir verehren

Wir treten dir
Wir treten dir zu Ehren heut zusammen.
Wohl in den Leib
Wohl in den Leibern lodern hell die Flammen Wir treten dir wohl in den Leib
Wohl in den Leibern lodern hell die Flammen

Du bist ein Vieh
Du bist ein vielgeliebter Fürst auf Erden
O du müßt´Hund
O du müßt´ hundert Jahr und älter werden
Du bist ein Vieh! O du müßt´ Hund
O du müßt´ hundert Jahr und älter werden

Es ehrn dich Schwein
Es ehrn dich Schweinfurts starke Bürgerwehren
Ein Riesenroß
Ein´n Riesenrosenstrauß wir dir verehren
Es ehrn dich Schwein, ein Riesenroß
Ein´n Riesenrosenstrauß wir dir verehren

O wie gemein!
O wie gemeinsam unsre Herzen
schlagen siehst du heut aus
Siehst du heut aus den Worten, die wir sagen
O wie gemein siehst du heut aus
Siehst du heut aus den Worten, die wir sagen

O wie es riecht
O wie es riecht nach deinem Ruhm im Lande Aus deinem Mund
Aus deinem Mund kam nie ein Wort der Schande
O wie es riecht aus deinem Mund
aus deinem Mund kam nie ein Wort der Schande

O wie es glänzt
o wie es glänzt in deinen goldenen Haaren Vor Speck und Dreck
Vor Speck und Dreck soll man dich stets bewahren
O wie es glänzt vor Speck und Dreck
Vor Speck und Dreck soll man dich stets bewahren

Du hast nen Flo
Du hast nen Florentiner Hut aufm Kopfe An deiner Brust
An deiner Brust prangt mancher Stern am Knopfe
Du hast nen Flo an deiner Brust
An deiner Brust prangt mancher Stern am Knopfe

(Text und Melodie: Anonym, ein Spottlied auf den Adel, dass so tut, als wär es ein Loblied.)


Liedtext "Auswanderungslied"

Auf in muthigem Vertrauen,
Fest und brüderlich vereint!
Vorärts, vorwärts laßt uns schauen,
Am Missouri Hütten bauen,
Wo der Freiheit Sonne scheint.

Vaterland, das mich geboren,
Lebe wohl, ich scheide nun.
Glück und Freude war verloren. –
Tyrannei, du seist verschworen!
Will in freiem Lande ruhn.

Ihr vom alten Vaterlande, Seht,
wir gehen euch voran.
O zerbrecht auch eure Bande, kühn
entreißet euch der Schande –
Folgt, o folget unsrer Bahn.

Deutsche Kraft und deutsche Treue –
Ueber Meere flieh´n sie hin.
O so blühe denn auf´s Neue Deutsche Kraft und deutsche Treue,
Am Missouri sollt ihr blühn!

(Friedrich Münch: Auswanderungslied, 1834. In: Friedrich Münch, Gesammelte Werke, St. Louis 1902, S. 3)

Justus Liebig und die Revolution

Mitten in der Revolution von 1948 schrieb Justus Liebig am 04.06.1848 an seinen ehemaligen Schüler Eben Norton Horsford und schilderte ihm seine Empfindungen und Befürchtungen.

„Eine Reihe von erschütternden Ereignissen, welche Deutschland in seinen Grundfesten zu zerreissen drohen, liegt zwischen diesem und meinem letzten Brief. Sie haben durch die Zeitungen erfahren, welchen Einfluß die neue französische Revolution auf die Zustände in meinem Vaterlande gehabt haben. Ein drückendes System der härtesten Polizeigewalt, welche den politischen Geist gefesselt hält, ist gestürzt und die Folge davon war ein Zustand der Auflösung und Anarchie, wie ihn keine menschliche Weisheit vorhersehen konnte. So wie die Bauern sich gegen ihre Grundherren, so stellten sich die Völker ihren Fürsten gegenüber, in Wien, in Berlin, in Darmstadt, München, in allen Städten Deutschlands wurden die Regierungen durch die Gewalt der Bajonette gezwungen, die Freiheiten zu gewähren, welche ein unveräußerliches Gut eines jeden Menschen sind. Alles dieß ist geschehen und es hat im Verhältniß nur wenig Menschenleben gekostet. Wir haben eine unbeschränkte Preßfreiheit, ein öffentliches Gerichtsverfahren durch Geschworne, Petitionsrecht und das Recht der Association, allgemeine Volksbewaffnung, alles in dem reichen Maaße wie es England und Ihr glückliches Vaterland besizt, und wir alle würden zufrieden sein, wenn diesen wichtigen Erwerbungen Zeit gestattet würde, sich zu entwickeleln und zu befestigen. Was eine Revolution stets im Gefolge hat ist auch bei uns eingetreten. Mit der Auflösung des alten Zustandes, der alten Gesetze erhob die Hydra des Communismus ihr vielköpfiges Haupt. (…)

In Gießen haben uns diese Ereignisse tief ergriffen, die Zeit der harmlosen, ruhigen Naturforschung war vorüber und hatte einer ungeduldigen leidenschaftlichen Aufregung Platz gemacht. Wir hatten aber hier keine der Stürme zu bestehen, welche die großen Städte erschütterten, es blieb hier ruhig in Folge der Bildung einer Bürgergarde, an deren Spitze unser Professor Vogt stand, dem wir für seine patriotischen Bemühungen viel Dank schuldig sind. (…)

In meiner Vorlesung habe ich gegen sonst übrigens keinen Unterschied wahrgenommen. In unserm Familienleben hat sich nichts geändert und wenn Sie wie sonst bei uns am Theetisch säßen, so würden Sie schwerlich vermuthen, wie groß die politischen Veränderungen sind. (…)

Meiner Frau, die eine leidenschaftliche Gärtnerin ist, haben Sie mit Ihrer Sendung eine große Freude gemacht. Die Reiser waren, wie Sie Sich erinnern, in Kartoffeln gestekt, um sie frisch zu erhalten, auch diese Kartoffeln sind gepflanzt und im Herbste werden wir amerikanische Kartoffeln essen. (…)

Haben Sie die Güte lieber Horsford dem Praesidenten der Agricultural Society für die Aepfelreiser meinen besten Dank auszudrücken, ich sehe aus Ihrem Briefe, daß sie von der Agric[ ultural] Society sind. Ihrer Frau läßt sich die Meinige, so wie Agnes und Nanny und wir alle aufs Beste empfehlen. Wir wünschten sehr dieselbe persönlich zu kennen. (…) Ihr aufrichtiger Freund Just[us] Liebig"

(Eva-Marie Felschow: Die Revolution von 1848 in Deutschland und in Gießen – Politische Anmerkungen des Chemikers Justus Liebig. Giessener Universitätsblätter; 28/1995, S. 23-30).