19. Jahrhundert
Handwerks- und Industriestadt
Nach welcher Rezeptur die Gießener Firma Gail ihren Kautabak aromatisierte, war und blieb streng geheim. Überliefert ist jedoch,
dass sie ihn zu Rollen gepresst in Keramiktöpfen aufhob und scheibchenweise verkaufte.
Die Tabakverarbeitung gehörte zu Beginn der
Industrialisierung zum bedeutendsten Produktionszweig der Region.
Sonst trieben Bergbau, Textil- und Metallgewerbe den ökonomischen Wandel voran.Erst zur Jahrhundertwende
dominierte der Bergbau auch im
Gießener Raum.
Nach und nach ergänzten Maschinen- und Anlagenbau, Gießereien, Bierbrauereien und eine überregionale Keramikindustrie das Wirtschaftsleben in der Universitäts- und Provinzialhauptstadt des hessen-darmstädtischen Oberhessen. Aufgrund der guten Verdienstmöglichkeiten zogen viele Unternehmer- und Arbeiterfamilien in die Stadt. Neue Handels- und Dienstleistungsgewerbe gründeten ländliche Filialen. Manche Betriebe agierten erfolgreich im ganzen Land – und sogar international.
Tabakbehälter
Tabak überall
Am Beginn der industriellen Tabakverarbeitung in Gießen standen die Firma von Georg Philipp Gail und die Herstellung von Pfeifentabak. Bald darauf wurde auch Kautabak und Schnupftabak hergestellt. Danach erst, ab den 1840er Jahren, kam die Zigarrenproduktion hinzu, die schließlich der gesamten Region zu einem außerordentlichen wirtschaftlichen Aufschwung verhalf. Spätestens seit den fünfziger Jahren war der Gründer dieses Produktionszweigs, Georg Philipp Gail, in der Lage zu expandieren. Er schickte einen seiner Söhne in die Vereinigten Staaten, um dort Rohstoffe einzukaufen. Dort entstand dadurch die Firma Gail&Ax Tobacco Works in Baltimore.
Jugendbildnis Georg Philipp Gail (Stadtarchiv Gießen). Gail&Ax Tobacco Baltimore (Stadtarchiv Gießen).
Dies war jedoch die Ausnahme. Kennzeichnend für die regionale Entwicklung ist in der Region um Gießen die Einrichtung einer dezentralen Produktionsweise. Auch die größten Betriebe waren so organisiert, dass neben der Zentrale zahlrei-che Filialen im ländlichen Raum bestanden. Damit kamen die Arbeitsplätze zu den Arbeitskräften. Diese wiederum konnten in ihren Wohnsitzen verbleiben. Besonders den Lebensverhältnissen der weiblichen Arbeitskräfte kam diese Arbeitsorganisation entgegen, wenn Frauen neben ihrer Fabrikarbeit noch Haushalt, Kinder und teilweise eine kleine Landwirtschaft zu versorgen hatten. Durch das Filialsystem ließen sich die vielfältigen Beanspruchungen der Arbeitskräfte miteinander vereinbaren. Und auf diese Weise konnte von Seiten der Arbeiterinnen auch mit großer Flexibilität auf Arbeitsspitzen reagiert werden - sie konnten länger arbeiten -, wenn die Auftragslage dies erforderte, und dieses System erlaubte es den Unternehmern im Gegenzug, auf die jahreszeitlich bedingten Zyklen der Landwirtschaft in einem gewissen Maß Rücksicht zu nehmen. Denn die Arbeiterfamilien betrieben in der Regel weiterhin eine kleine Landwirtschaft. Das bedeutete z. B., dass während der Erntezeit weniger gearbeitet werden konnte. Und auch für Fälle, wo Frauen sich um kranke Kinder kümmern mussten, waren kulante individuelle Regelungen möglich.
Die Verbreitung der Tabakindustrie (Stadtarchiv Gießen).
Mit einem Wirtschaftflüchtling beginnt die Industrialisierung
Georg Philipp Gail, Sohn eines Buchbinders und Kolonialwarenhändlers, fing auf Rechnung seines Vaters, in Dillenburg eine kleine Rauchtabakfabrik an. Als die Obrigkeit im Jahre 1811 auf Druck Napoleons das staatliche Tabakmonopol einführte, ist in diesem Zusammenhang die Produktion der Gails geschlossen worden. Die Familienlegende erzählt dazu folgende Geschichte: Da noch einige Karren mit Rohtabak nach Dillenburg unterwegs waren, ritt ihnen Georg Philipp Gail entgegen und leitete sie nach Gießen um, noch ehe sie die Grenze überschritten hatten. Hier begann er mit dem Rohmaterial eine kleine Fabrikation.
Doch ging es ihm möglicherweise nicht allein um die Wiederaufnahme der Tabaksfabrikation. Vielleicht strebte er damit auch nach Unabhängigkeit vom Familienbetrieb und suchte ein eigenes lukratives Betätigungsfeld. Er setzte dabei auf die Herstellung von Rauchtabak und in Gießen bot sich eine Möglichkeit. Günstig war dieser Standort aus mehreren Gründen. Neben der Monopolfreiheit waren die Tabaksteuern in Hessen-Darmstadt angenehm niedrig. Durch die Universität und die Garnison war ein Absatzmarkt für Tabakprodukte vorhanden und außerdem gab es in Oberhessen, mit Ausnahme einer Friedberger Fabrik, keine Konkurrenz. So lenkte Georg Philipp Gail im Winter 1811 einen Tabaktransport nach Gießen und begann dort am 27. Januar 1812 in einem Gebäude am Kreuzplatz mit der Tabakfabrikation.
Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Georg Philipp Gail bereits früher in Abwägung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten Kontakte nach Gießen aufgenommen und die Marktlage sondiert hatte. Die Einführung des Tabak-monopols war für ihn vielleicht nur der Anlass zur Betriebsverlagerung. Diese Vermutung wird durch ein Indiz aus dem privaten Umfeld gestützt. Denn bereits ein halbes Jahr nach der Betriebseröffnung heiratete Georg Philipp Gail eine Susanna Busch, die Tochter aus einer einflußssreichen Gießener Familie. Damit begründete er die Gießener Tabakindustrie und gleichzeitig begann damit die Gießener Industrialisierung.
Doch wäre Georg Philipp Gail nach heutiger Terminologie als Steuer- und Wirtschaftsflüchtling zu bezeichnen, der sich 1812 aus Gründen der Steuervermeidung aus dem Dillenburgischen hierher begab, um seinem Kapital und seiner unternehmerischen Initiative ein lukrativeres Umfeld zu geben. Wenn es darum ging, seine Fabrikate abzusetzen, hatte er anfangs wenig Skrupel. So speisten seine Produkte unter anderem den Schmuggelhandel mit Tabakwaren in die Monopolgebiete. Und, weil die neuen Gießener Marken auf dem Markt nicht eingeführt waren, verkaufte er sie unter falschem Namen und unter holländischen Etiketten. Das Publikum war an den Rauchtabak aus Amsterdam, Rotterdam, Schiedamm oder Zwolle gewöhnt und wollte sich nicht gerne umstellen. Da bekam es eben seinen holländischen Tabak, auch wenn er in Gießen produziert wurde. Heute würde man sagen, Georg Philipp Gail betrieb Markenpiraterie.
Georg Philipp Gail leitet einen Tabaktransport nach Gießen um. Ausschnitt aus einer Einladungskarte, gestaltet von Otto Ubbelohde zum Firmenjubiläum 1912 (Stadtarchiv Gießen).
Lohnarbeit für Landleute
Wesentliches Kennzeichen der Tabakverarbeitung war die hohe Personalintensität. Die ersten Anfänge der Zigarrenproduktion in Gießen waren noch vom Mangel an Fachkräften und dem protektionistischen Verhalten der wenigen von außerhalb verpflichteten Facharbeiter bestimmt.
Dies traf ebenfalls für die in den dreißiger Jahren aufgenommene Zigarrenfabrikation zu. Da niemand in Oberhessen Erfahrung in diesem Geschäft hatte, mussten Arbeiter aus Norddeutschland, z. B. aus Bremen, angeworben werden. Diese galten als besonders qualifizierte Fachkräfte, erhielten einen entsprechend hohen Lohn und sie waren durchaus nicht ohne Weiteres bereit, ihr spezielles Wissen und ihre Fingerfertigkeit an Einheimische weiterzugeben. Erst nachdem sich allmählich, durch gezielte Schulungsmaßnahmen der Fabrikanten, ein umfangreicher Stamm geschulter Arbeiter herausgebildet hatte, eröffneten sich auch Möglichkeiten zur Expansion. Nun konnten in der Zigarrenproduktion zahlreiche Arbeitskräfte ihr Auskommen finden.
Fragt man nach den Ursachen für die Entstehung und den Aufstieg der Zigarrenindustrie in der Region um Gießen, so kommen mehrere Faktoren in Betracht.
Einer der Umstände, die sich begünstigend für die Aufnahme der Tabaks- und Zigarrenfabrikation auswirkte, waren die niedrigen Kosten für die Produktionsmittel. Die geringe Kapitalintensität der Tabak- und Zigarrenfabrikation in einer kapitalarmen Region beförderte deren Entwicklung. Mehr als ein Fabrikations-gebäude wurde nicht benötigt und oft konnten bereits bestehende Gebäude ohne große Umbauten für die Zigarrenproduktion adaptiert werden. Eines der wichtigsten Kennzeichen der Tabakverarbeitung war die sehr stark von manueller Arbeit geprägte Fertigung, woraus die große Personalintensität der Produktion resultierte. Die Tabak- und Zigarrenfabrikation stellte, vor allem wegen der hohen Nachfrage an den regionalen Arbeitsmarkt, einen bedeutenden Beschäftigungsfaktor dar. Die Arbeitskräfte kamen vom Land, aus der Umgebung von Gießen und zwar noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.
Arbeiter der Zigarrenfabrik Emmelius. In der Frühzeit, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, war die Tabakarbeit meist Frauenarbeit (Stadtarchiv Gießen).
Darstellung des Filialnetzes der Firma Rinn & Cloos um 1908 (Stadtarchiv Gießen).
Zugewanderte Unternehmer
Das mobile 19. Jahrhundert brachte Menschen und Ideen in Bewegung. Kenn-zeichnend für die Industrialisierung der mittelhessischen Region ist die Migration von Wissen und Kapital. Wichtige Gründerpersönlichkeiten des 19. Jahr-hunderts sind zugewandert. So kam die Familie Buderus vom Nassauischen ins Solms-Laubachische, die Gründer der Wetzlarer Feinmechanik- und Optikindustrie, Karl Kellner und Ernst Leitz waren ebenfalls Ortsfremde.
Von den Unternehmern, die im 19. Jahrhundert in Gießen eine erfolgreiche Produktion begannen, sind ebenfalls einige zugewandert. Die Suche nach einer ertragreichen Geldanlage oder nach einer Gelegenheit Fertigkeiten und Spezialkenntnisse sinnvoll und gewinnbringend einzusetzen, bringt sie hierher.
Mit der Übernahme des Gießener Braunsteinbergbaus durch den Schotten Ebenezer Vaugh Fernie erhielt dieser eine hinreichende Kapitalausstattung und mit der Einstellung des Ingenieurs Peter Wilsons, ebenfalls ein Schotte, war das technische Wissen vorhanden, um den bis dahin unrentablen Betrieb aufblühen zu lassen.
Nicht viel anders verhielt es sich mit zwei weiteren Unternehmerpersönlichkeiten: Louis Heyligenstaedt und Karl Bänninger.
Heyligenstaedt stammte aus dem thüringischen Vacha und kam über seine Lehre bei der Maschinenbaufirma Nenzel nach Gießen. Nach abgeschlossener Lehre arbeitete Heyligenstaedt zunächst einige Jahre in der hessen-darmstädtischen Industriestadt Offenbach, kehrte dann zurück nach Gießen zur Firma Nenzel, heiratete 1872 die Tochter seines Lehrmeisters und gründete 1876 zusammen mit seinem Kapitalgeber Alexander Lich aus Lich eine eigene Werkzeugmaschinenfabrik.
Ähnlich verhielt es sich mit der Firma Bänninger. Karl Bänninger war gebürtiger Schweizer. Er absolvierte seine Ausbildung bei einer landwirtschaftlichen Maschinenfabrik in Schaffhausen, arbeitete danach in Paris und Chemnitz. Mit seinem sechzigsten Lebensjahr schied er dort aus und etablierte 1909 mit seinem Vermögen einen eigenen Gießereibetrieb und Fittingsfabrik in Gießen unter der Firma Bänninger GmbH.
Geld, Fertigkeiten und Unternehmungsgeist suchten nach Möglichkeiten und in der Region um Gießen wurden sie fündig.
Louis Heyligenstaedt (Stadtarchiv Gießen). Karl Bänninger (Stadtarchiv Gießen).
Frauenarbeit schafft Männerarbeitsplätze
Zu Beginn der regionalen Tabakindustrie noch überwiegend männlich geprägt, änderte sich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft, als sich in den neu entstandenen Industrien für Männer besser bezahlte Anstellungen boten. Nun mangelte es den Tabakfabriken an Arbeitskräften. Es wurden vermehrt Frauen eingestellt. Damit wandelte sich der Beruf des Tabakarbeiters in der zweiten Hälfte des 19Jh. zu einem Frauenberuf. Rasch erkannten die Unternehmen, dass Frauen ebenso gute und zuverlässige Arbeiter waren – und dazu auch noch billiger.
„Gerade die Frauen werden von den Zigarrenindustriellen als Arbeiter sehr geschätzt, wie denn einer derselben die Frauen als das „zuverlässigste, ernsteste, sittlichste und intellektuell am höchsten stehende Element“ der Tabakarbeiterschaft genannt hat.“
Die aufblühende Zigarrenfabruikation benötigte Mitte des 19. Jh. immer mehr Arbeitskräfte. Filialen in den umliegenden Dörfern trugen maßgeblich zur Steigerung des Anteils weiblicher Arbeitskräfte in der Tabakindustrie bei. 1867 waren 59 % der Tabakarbeiter Frauen, 1906 bereits 79% und in den Kriegs- und Folgejahren waren vielfach bis auf die Werkmeister alle Beschäftigten weiblich.
Nach dem herrschenden Gesellschaftsbild verdienten Frauen immer nur dazu. Deshalb herrschte die allgemeine Ansicht, dass Löhne für Frauen niedriger sein könnten als die männlicher Arbeitnehmer. Außerdem verdienten die Gießener Tabakarbeiterinnen ca. 30% weniger als im Reichsdurchschnitt. Dies, zusammen mit den außerordentlich guten Verdienstmöglichkeiten der Tabakverarbeitung, ermöglichte außerordentlich große Kapitalakkumulationen, die nun in andere Produktionszweige, mit vorwiegend männlichen Arbeitsplätzen, investiert werden konnten. So schuf Frauenarbeit Männerarbeitsplätze.
Arbeiterinnen in einer Filiale der Gail´schen Tabakfabriken (Stadtarchiv Gießen).
Tabakarbeiterinnen der Firma Busch und Mylius (Rinn).
Arbeiterquartiere und Bürgervillen
Die guten Verdienstmöglichkeiten brachte einerseits Reichtum in die Unterneh-merkreise, sie bewogen andererseits auch viele Arbeiterfamilien nach Gießen zu kommen. Wichtig war nun die Schaffung von Unterkünften für sie.
Dem stand das wachsende Repräsentationsbedürfnis der Fabrikdirektoren gegenüber. Sie bauten sich repräsentative Villen. Dies geschah nicht im Rahmen einer Gesamtplanung, sondern jeweils auf Initiative einzelner Personen. Daher entwickelte sich auch kein Villenviertel in Gießen.
So entstanden entlang der Frankfurter Straße, in der Gartenstraße, aber auch um das Universitätshauptgebäude vereinzelt Villen. Der Großteil der Gießener Bevölkerung wohnte in dreistöckigen Mietshäusern.
Für die seit den 70er Jahren wachsende Arbeiterschaft mussten nun ebenfalls angemessene Unterkünfte geschaffen werden. Insbesondere der Industrielle Louis Heyligenstaedt förderte die Errichtung von Arbeiterwohnungen im Riegelpfad und in der Bruchstraße. Diese ähnelten in ihrer äußeren Form und in der Innenaufteilung zunächst den Bürgerwohnungen, hatten jedoch auf das Nötige reduzierte, kleinere Dimensionen. Die später gebauten Wohnblocks im Gartfeld und in der Schwarzlach trugen die Züge der typischen Arbeitersiedlungen des 20. Jahrhunderts.
Mietwohnungen in der Schwarzlach, 1931 (Stadtarchiv Gießen).
Von Dienstboten, Landfrauen und Arbeiterinnen
Annekett
„Annekett, das tun Sie mir doch nicht an!“ sagte die Frau Rechnungsrat Steinberger bleich und erregt. »Sieben Jahre sind Sie bei mir. Ich hab Sie gehalten, als wenn Sie zur Familie gehörten. Die Kinder sind unter Ihren Augen in die Höhe geschossen, hängen an Ihnen und jetzt wollen Sie gehen?
Nein, das kann Ihr Ernst nicht sein. Zehn Mal überlegt, Annekett, eh einmal getan!« »Ich hab mir’s überlegt«, versetzte die Annekett und schaute ein wenig verlegen vor sich hin. »Meine Knochen wollen nicht mehr. Arbeiten muß ich, das ist gewiß. Aber jedes soll nach seinen Kräften schaffen. Ich such mir halt einen leichteren Dienst!«
»Ich weiß wohl«, seufzte die Frau Rechnungsrat, »wo fünf Kinder sind, da heißt’s schanzen. Ein Zweitmädchen können wir uns nicht erlauben. Ich fass’ früh und spät mit an, das sehen Sie ja. Ostern kommt das Mariechen aus der Schule.
Dann hab ich an dem eine Hilfe. Ich will mit meinem Mann sprechen. Vielleicht legt er Ihnen etwas zu.«
Die Annekett schüttelte den Kopf.
»Ich kann’s nicht mehr leisten, Frau Rechnungsrat. Was zu viel ist, ist zu viel. Hier herein gehört eine junge Person. Und die kriegen Sie auch. Sie müssen nur suchen.«
»Des Menschen Wille ist sein Himmelreich«, sagte die Frau Rechnungsrat bekümmert. »Wenn Sie wirklich gehen, wollen wir in Frieden voneinander scheiden. Bis Michaeli bleiben Sie doch?«
»Ja, Frau Rechnungsrat!«
Die Annekett verließ das Wohnzimmer und begab sich in die Waschküche hinunter. Ihre Madam tat ihr leid. Eine gute Frau und nicht auf Rosen gebettet. Der Rechnungsrat war ein Krippenbisser. Wehe, wenn im Haushalt nicht alles wie am Schnürchen ging! Bei Tisch wurde der Edu geohrfeigt, weil er das Messer in den Mund steckte. Lächerlich! Zu was waren die Messer denn da? Abend für Abend marschierte der Herr Rechnungsrat in den >Adler< und stach seinen Schoppen.
Derweil saß seine Frau daheim und stopfte und flickte. Was hatte sie von ihrer Eheschaft? Die Kinder. Mit denen durfte sie zufrieden sein. Der Edu zwar schlug seinem Vater nach. Trat man ihm auf die kleine Zehe, muckte er auf, der Rauschebeutel. Dessentwegen konnte freilich ein ordentlicher Mensch aus ihm werden. Hatte ihre Lore etwa keine Fehler? Und sie hoffte doch, Freude zu erleben! Die Annekett trat an den Waschzuber, streifte die Ärmel in die Höhe und tauchte die blauroten Hände in die schaumige Brühe. Während sie wusch, pochten die Gedanken bei ihr an und sie mochte ihnen nicht wehren.
Sie war gebürtig aus Klingelbach. Ihr Vater gehörte als Klarinettenbläser der bekannten Klingelbacher Kapelle an, die aller Herren Länder bereiste und hinauf bis nach Schottland kam. Diese Musikanten hatten Falkenaugen und waren mit allen Hunden gehetzt. Gar manchmal geschah’s, daß sie in Herbergen spielten, darin der Teufel Hauswirt war. Sie bedienten sich einer Geheimsprache, die stark nach Rotwelsch klang und nur für Eingeweihte verständlich war. Kehrten sie in die Heimat zurück, brachten sie einen gespickten Beutel mit und lebten in den Tag hinein. Auch der Annekett Vater streute das Geld mit vollen Händen aus. Trat er seine Kunstreise an, hatte er vorher alles verjuxt und seiner Frau ging’s krätzerig. Die schlief in einer von Modergeruch erfüllten Kammer. Unter ihrer Bettstatt pflegte sie das Reisholz zu sammeln, das sie zum Feueranmachen brauchte. Hier bezogen die Mäuse ihr Hauptquartier. Die Annekett hatte die Hölle im Hause. Prügel gab’s und schmale Bisse. »Kein ausgeblasen Ei bist du wert«, ranzte die Mutter sie an, »bist so dumm, daß du brummst!« Als halbwüchsi-gem Kinde lag ihr ob, mit dem scheppen Rolfes andrer Leute Vieh zu hüten. Einmal auf der Weide sprach sie der Lehrer Jungmann an. »Die Kühe, die am meisten kreischen«, erzählte sie ihm, »geben die geringste Milch!« Er lachte und sagte: »Es scheint, das ist alles, was in deinem Kalender steht!« Nun bestellte er sie öfter in seine Wohnung und brachte ihr allerlei Lernwerk bei. Wie sie konfirmiert war, kam sie zu ihrer Gote nach Rainrod. Dort mußte sie Knüppelholz sägen und spalten, hatte auch in der Küche zu schaffen. Die Wohnstube der Gote war tapeziert, und ein Glasschrank stand darin mit vergoldeten und bunten Tassen. An den Wänden hingen allerlei hübsche Bilder. Sie, die Annekett, machte Augen, so groß wie Kroppendeckel. Dergleichen Herrlichkeiten hatte sie nie gesehen. Vier Jahre war sie bei der Gote, da kam dem Bruchmüller sein Michel vom Militär. Der Bruchmüller war ein dicker Bauer und hatte einen schönen Hof.
Und der Michel stieg um sie herum und sang:
Dein Augenpaar, das ist so blank
Und leuchtet wie zwei Sterne,
Dein Mund ist rot, dein Wuchs ist schlank,
Wie küßt’ ich dich so gerne!
Auf der Kirmes tanzten sie miteinander und er war ganz vernättert in sie. Die Gote erhob ihre warnende Stimme: »Nimm dich in acht, auf einmal ist die Katz im Schlag!« Sie wurde so rot wie glühendes Eisen. Was die Gote befürchtete, war schon geschehen. Der Michel aber sprach: »Sei ruhig, Annekett, ich laß dich nicht sitzen, ich drück’s bei meinem Vater schon durch!« Die Monate gingen hin, es war nichts mehr zu vertuckeln. Eines Sonntags wurde ihr windeweh. Die Gote zeigte sich liebreich und mild. Gleich ward die Kindfrau herbeigeholt. Im Handumdrehen war ein Mädchen da. Der Michel machte ein Gesicht wie ein Nest voll Eulen. Nicht, daß er sich mit schlechten Absichten trug, allein sein Vater, der von einer armen Schnurch nichts wissen wollte, setzte ihm dermaßen zu, daß er stumpfe Zähne bekam. Dessen ungeachtet beteuerte er: »Annekett, ich laß dich nicht sitzen!« Sie hatte aber auch ihren Stolz. »Spar dir den Odem,« fuhr sie auf, »wies kommen soll, so kommt’s doch. Alleweil wird’s klar gemacht zwischen uns zwei. Ich setz den Fall, du hätt’st deinen Vater übermault. Wie stünd ich hernach dann auf deinem Hof? Dein Vater tät mich schief angucken, tät mich nicht ästimieren. Reich bei reich, Bettel bei Bettel. Das ist einmal so in der Welt. Daß du’s nur weißt, ich nehm dich nicht. Ich zieh mir mein Kind allein!« Der Michel redete wie aus dem Sack geschüttelt.
Zu guter Letzt fing er an zu flennen. Sie aber blieb fest. Da ging er. Es war vorbei.
(Bock, Alfred: Gesammelte Werke / Erwin Leibfried (Hrsg.): Alfred Bock. Marburg: Hitzeroth 1992)
Henriette Fürth über Tabakarbeiterinnen
„Seit Jahrzehnten hat sich der Gebrauch eingebürgert, daß Mädchen der Gießen umgebenden Ortschaften nach Verlassen der Schule in die Zigarrenfabrikation gehen. Eine mächtige Förderung hat dieser Gebrauch dadurch erfahren, daß die großen Fabriken überall auf dem Lande Filialbetriebe eingerichtet haben und noch ständig einrichten. Dadurch wird es auch den verheirateten Frauen leichter gemacht, nach der Verheiratung die gewohnte Tätigkeit fortzusetzen.“ (…) „Heimarbeit ist im Bezirk nur in geringem Umfang vorhanden. Die Gepflogenheit, auch in kleineren und kleinsten Ortschaften Filialbetriebe einzurichten, hat der Nötigung zur Heimarbeit entgegengewirkt. Immerhin betrug die Zahl der in Heimarbeit beschäftigten zumeist oder fast auschließlich weiblichen Arbeiter im Jahr 1907 über 200, davon 169 als Roller, 49 als Tabakausripper und 4 als Sortierer und Kistenbereifer. Es sind dies fast ausschließlich verheiratete oder verwitwete Frauen, die durch irgendeinen Umstand verhindert sind, in der Fabrik selbst zu arbeiten. Sei es, daß irgendein Gebrechen sie am Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte hindert, sei es, daß häusliche Verhältnisse (kleine unversorgte Kinder, zu pflegende Kranke, eigene Kränklichkeit) oder (besonders die Witwen) die Sorge um die Wirtschaft und den Feldbau die Anwesenheit daheim erforderlich, bzw. wünschenswert machen.“ (…)
„Es ist also keineswegs das Interesse der Fabrikanten, von denen manche der Heimarbeit ablehnend, die meisten gleichgültig gegenüberstehen, sondern das Eigeninteresse der Arbeiterinnen, das die Fortdauer der Heimarbeit in dem gegebenen geringen Umfang wünschenswert macht.“ (S. 55)
„Über den allgemeinen Gesundheitszustand und insbesondere die Stillfähigkeit der Zigarrenarbeiterinnen sagt das Kreisgesundheitsamt Gießen (Bericht der Großherzogl. Hessischen Gewerbeinspektion für 1906, S. 103):
´Die besagten Hebammen haben durchweg keine Beobachtungen gemacht, daß die Zigarrenarbeiterinnen ihre Kinder weniger oft nähren als andere Frauen. Keiner, selbst der Ältesten nicht, war ein Unterschied aufgefallen´. Eine bezügliche Zusammenstellung, die durch Befragen durch den Kreisarzt und Aufzeichnungen einer Hebamme gewonnen wurde und sich auf neun Dörfer erstreckte, besagt, daß von ´260 Bauernfrauen 46=16,5% nicht stillten; von 108 Zigarrenarbeiterinnen 25=23,1%. Hiernach besteht ein Unterschied von 6 bis 7% zuungunsten der Zigarrenarbeiterinnen. Es ist aber auch zu bedenken, daß 1) Zigarrenarbeiterinnen wohl nicht die Unbequemlichkeit haben wollen, mehrmals täglich die Fabrik zu verlassen, um ihr Kind zu nähren, 2) unter diesen Frauen sich viele Erstgebärende befinden, die aus mangelhafter Vorbereitung der Brüste vor der Niederkunft das Stillen sofort aufgeben müssen. (Schrundenbildung, Brunstentzündung.)“ (…)
Arbeiterinnen der Firma Noll in Tracht (Stadtarchiv Gießen). Henriette Fürth (StAD A 18-50).
„Die Lungenerkrankungen figurieren mit 7,6%, die (durch das Rollen der Zigarren veranlaßten) Bindegewebsentzündungen an Daumen und Zeigefinger mi 5% aller Krankheitsfälle. Von den 1,1% Fällen an Lungenschwindsucht heißt es: In Wirklichkeit wird jedoch diese Zahl eine höhere sein. Die Krankenscheine enthalten nämlich, vielfach wohl mit Rücksicht auf die Patienten, bei einzelnen Namen keine Krankheit angegeben. Die wiederholte Erkrankung der betreffenden Personen an Bluthusten, Lungenspitzenkatarrh oder Rippenfellentzündung, die lange Dauer ihrer Erwerbsunfähigkeit, sowie der später gemeldete Tod lassen aber über die Bedeutung und Schwere der Krankheit kaum noch einen Zweifel.
(...) Bemerkenswert ist der offensichtlich hohe Prozentsatz, den in erster Linie die Erkältungskrankheiten und besonders die Erkrankungen der Respirationsorgane einnehmen, und es erscheint kaum zweifelhaft, daß Zigarrenarbeiter mehr als andere gewerbliche Arbeiter diesen Erkrankungen ausgesetzt sind.“
„Mit verantwortlich wird gemacht der ständig sitzende Aufenthalt in warmen geschlossenen Räumen und die den Witterungsverhältnissen nicht Rechnung tragende unzweckmäßige Tracht dortiger Gegend. ´Daß aber dabei auch noch andere Ursachen und insbesondere wohl die ständige Einwirkung des Tabakstaubes mit in Betracht kommen, dafür sprechen einmal die lange Dauer und Hartnäckigkeit der Katarrhe und die Häufigkeit und Schwere ihrer Folgeerkrankungen (Lungenkatarrh, Bluthusten, Rippenfellentzündung usw.), dann aber auch zweifellos die in mehr als gewöhnlicher Häufigkeit auftretenden Magen- und Darmkatarrhe, sowie die mannigfachen Störungen in der weiblichen Geschlechtssphäre. (…) Berufliche Störungen sind zweifelsohne vorhanden.“
„Im Ganzen entspricht aber sowohl der in der Fabrik wie in der Heimarbeit zu erreichende Verdienst weder dem in anderen Gewerben zu erlangenden, noch auch der modernen Anschauung über Mindestlohnsätze. Nach einer bei Kehm (Die Gießener Tabakindustrie) wiedergegebenen Bekundung der Tabaksgenos-senschaft waren im Jahre 1902 in den Kreisen Gießen, Wetzlar und Biedenkopf 3372 obligatorisch versicherte Vollarbeiter mit mindestens 300 Arbeitstagen in der Tabakindustrie beschäftigt. Sie verdienten zusammen 1612453 M., so daß auf einen Arbeiter im Durchschnitt ein Jahresverdienst von 478,19 M. und ein Tagesverdienst von 1,60 M. kommt“.
(Aus: Henriette Fürth: Die Zigarrenmacherei im Bezirke Gießen. In: Die Heimarbeit im rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet. Frankfurt a. M. 1908, S. 53-70)
Landfrauenarbeit
Die Landfrau baute Kartoffeln, Brotgetreide und Hafer zur Fütterung der Hühner an. Ob, und wieviel Milch und Eier für den Markt produziert wurden, ist schwer festzulegen, weil Quellen fehlen. Fast alle Familien hielten jedoch eine Kuh und versuchten Butter zu verkaufen, um der Familien Bargeld zu erwirtschaften. Dies war notwendig, denn der Verdienst des Mannes reichte kaum für den täglichen Bedarf an Waren, die beim Händler gekauft wurden, oder aber der Lohn wurde dafür erst gar nicht einkalkuliert. „Wir lebten von der Landwirtschaft. Da gabs nicht viel was - das Geld, was der [Vater, K.W.] mitbrachte, damit wurden Schulden bezahlt“.
Im Zuge der Industrialisierung boten sich den Männern bessere Verdienstmöglichkeiten, die jedoch oftmals mit der Trennung von Arbeitsort und Wohnort einhergingen. Diese Wanderarbeiter konnten, auch wenn sie wollten, die landwirtschaftliche Arbeit nicht leisten, da sie die meiste Zeit vom Dorf abwesend waren. Diese Arbeiten lasteten nun alleine auf den Frauen.
So kam es auf den Dörfern oft vor, dass sonst männlich dominierte Aufgabengebiete von Frauen übernommen wurden. Sie pflügten, eggten, luden Dung und brachten ihn aus, fuhren Grünfutter, Heu und Stroh ein. Für diese Tätigkeiten war ein Gespann nötig, weshalb sie traditionell dem männlichen Arbeitsbereich zugeordnet wurden.
Kleinbäuerinnen erledigten jedoch nicht nur die Gespannarbeiten, sondern auch das mit hohem Ansehen bedachte Säen.
Die Belastung, der die Frauen ausgesetzt waren und die ihre Gesundheit beeinträchtigte, ging aus der Produktionsfunktion der Familie hervor. Basierend auf der Herkunft der sich vermählenden Personen entschied die Heirat über deren und ihrer Kinder Zukunft, weil Besitzstandwahrung und sozialer Ab- oder Aufstieg eng mit der Wahl des Gatten zusammenhing.
Den Heiratskreisen kommt deshalb erhebliches Gewicht zu, weil sich in der Partnerwahl gruppenspezifisches Verhalten manifestiert und sie gleichzeitig ein Licht auf individuelle Entfaltungsmöglichkeiten wirft.
Für Töchter aus kleinbäuerlichen Haushalten ergaben sich aus dieser Bestimmung ihrer sozialen Stellung klare Handlungsanweisungen für die Gestaltung ihres Lebens. Das bescheidene Vermögen ihrer Eltern befähigte sie zu einer Ehe ohne Statusverschlechterung. Als Mitgift erhielten sie vielleicht eine Kuh, was die Heirat mit einem Bauhandwerker aus ähnlichen wirtschaftlichen Verhältnissen möglich erscheinen ließ. Die Verbindung mit einem dieser Männer wurde gern gesehen, brachten sie doch die Berufsausbildung mit in die Ehe, die einen Gelderwerb versprach. Eine solche Partnerwahl setzte bei den Frauen jedoch gewisse Fähigkeiten voraus, denn sie mussten in der Lage sein, eigenständig die Wirtschaft zu führen, wenn sie einen Fernpendler heirateten, der zwar nie zu Hause war, aber Grund in die Ehegemeinschaft einbrachte. Im elterlichen Haushalt konnten sie von der Mutter angelernt werden, doch reichte diese Ausbildung nicht aus. Es war nicht nur der benötigten Qualifikation halber sinnvoll, in einen anderen Betrieb zu gehen, um die Kenntnisse zu vervollständigen, sondern wichtig, um die materielle Basis für eine eigene Haushaltsführung zu erarbeiten. Die jungen Frauen mussten sich einen Teil ihrer Aussteuer selbst erwirtschaften, da der elterliche Hof, vor allem bei mehreren Geschwistern, diese Belastung nicht tragen konnte. Sie brauchten jedoch in den seltensten Fällen ihren Verdienst der Herkunftsfamilie zukommen zu lassen, wie dies in anderen sozialen Gruppen von den Eltern verlangt wurde. Deshalb standen die meisten jungen Frauen bei den Bauersleuten im Dorf oder der näheren Umgebung in Dienst. Vor allem stellten die Töchter der geringen Leute, die ein oder zwei Kühe besaßen, das hiesige Gesinde. In ihrer Funktion als Magd bereiteten sie sich auf ihr späteres Leben vor.
(Nach Kerstin Werner: Ernährerin der Familie. Zur Situation der Kleinbäuerinnen in einem mittelhessischen Dorf um die Jahrhundertwende. In: Johanna Werckmeister (Hrsg.): Land-Frauen-Alltag: 100 Jahre Lebens-und Arbeitsbedingungen der Frauen im ländlichen Raum. Marburg 1989, S. 28-43)