12. - 16. Jahrhundert

Siedlung und Stadt

Der Grabstein mit der Brezel führt in die Zeit der ersten Gießener Stadterweiterung. Im 13. und 14. Jahrhundert zogen Siedlungsbewohner aus dem Umland in die Stadt. Mit Aufschüttungen machten sie das Gelände begeh- und bebaubar, erschlossen neue Gebiete nach Süden und nach Westen bis an die Lahn.

Bald entwickelten sich Gewerbe und Handwerk. Die Wollweber, Fleischer und Schuhmacher organisieren sich als Erste in Zünften, vermutlich auch die Bäcker, die für denäglichen Bedarf der Stadtbewohner sorgten. Entweder gehörte der 1551 verstorbene Jost Becker dazu – oder sein Grabmal trägt ein Zeichen seines Namens. Dokumenten zufolge war er 1542 Bürgermeister.

Viele Familien betrieben neben ihrem Gewerbe noch Landwirtschaft. Spezialisierte Handwerksbetriebe wie Kupfer-, Kessel-, und Waffenschmieden kamen hinzu. Allmählich bildeten sich soziale Schichten. Reiche, mächtige Bürger grenzten sich von ärmeren, von Knechten, Mägden, Tagelöhnern ab. Über ihnen standen die Burgmannen und die Amtsträger der Obrigkeit.

Der Grabstein des Bäckers

Das Rätsel der Brezel

Auf einem der ältesten Sandstein-Grabsteine aus Gießen ist eine im vertieften Feld in Relief ausgearbeitete Brezel zu erkennen. Die Vorderseite trägt die Inschrift: „freitag nach invocavit starb jost becker dem got gnade (innere Inschrift) 1551“. Es handelt sich um einen Grabstein, in Form eines Scheibenkreuzes. Derartige Scheibenkreuze waren in Europa in relativ großer Formenvielfalt verbreitet. Jost Becker lebte und arbeitete in Gießen. Sein Geburtsjahr ist nicht überliefert, es ist jedoch überliefert, dass er 1542 einer der beiden vom Rat gewählten Bür-germeister war. Eine Steuerliste des Jahres 1546 nennt seinen Wohnort „vor der Selters Porte.“ Er wirkte zu einer Zeit, die von der Einführung der Reformation in Hessen geprägt war.
Der Grabstein ist im Vergleich mit anderen Grabmalen von bescheidener Art. Der Stein des Jost Becker befand sich bis 1972 auf dem Alten Friedhof freistehend mit dem längeren Schaft in der Erde eingegraben. So schwer entsprechende Nachweise zu erbringen sind, wird es nach heutigem Ermessen richtig sein, von durchaus unterschiedlichen Setzungsabsichten auszugehen. Der Stein mit seinem Namen war für Jost Becker persönlich wohl auch ein Zeichen, welches an ihn erinnern sollte. Ein wichtiger Gesichtspunkt in Zeiten der allgegenwärtigen Todesgewißheit und des Bewußtseins der Vergänglichkeit.
Falls er verheiratet war, hatte seine hinterbliebene Ehefrau Trauerzeit und Kleidungsvorschriften einzuhalten, zu denen auch der Witwenschleier gehörte. Sie dürfte sich auch um den Stein gekümmert haben, allerdings kann dies auch für die Kinder gelten.
Die Brezel gehört, vielfach belegt und naheliegend, zum Bäcker, wurde seit dem 14. Jahrhundert zum Wappen ihrer Zunft. Bleibt die Frage nach der Brezel. Ohne Kenntnis der angeführten Urkunde, die Jost Becker als Bürgermeister nennt, sowie einer weiteren, sehr beschädigten Bürgermeisterrechnung des Jahres 1543, die einen Jost Becker nicht unter den Bäckern nennt, war es ganz selbstverständlich mit der Brezel einen untrüglichen Hinweis auf den Beruf des Verstorbenen zu haben, wie dies in der Literatur auch angenommen wurde. Vor diesem Hintergrund scheint alles ganz einfach, aber aufgrund der Quellenlage kann die Gleichung hier nicht aufgehen und es wird sich bei der Brezel um ein Namenszeichen handeln. Verglichen mit den figürlichen Grabplatten in Kirchen und Klöstern – auch dem Oberhessischen Museum – gehören die sogenannten Scheibenkreuz-Grabsteine zu den nicht allzu bekannten Objekten der Erinnerungskultur. Ihr Name leitet sich her von der charakteristischen Verbindung von Kreisform und Kreuz. Zu der nicht eindeutigen terminologischen Bestimmung dieser und ähnlicher Objekte gehört, dass auch von Kreuzsteinen, Radkreuzen gesprochen wird, die aus verschiedenen Gründen gesetzt wurden. Dazu gehört unser Stein nicht, der den sicherlich gegebenen Wunsch des Verstorbenen, nicht vergessen zu werden, bewahrt. (Christa Benedum)

 

Von Scheibenkreuzen, Tableaus und anderen Steinen

Ein Spaziergang über den Alten Friedhof lohnt. Dort gibt es noch mehrere Brezeln auf großen Grabplatten zu entdecken. Vielleicht helfen die Biographien der Verstorbenen und die Beobachtung, dass es sich bei diesen um echte Brezeln mit Verschlingung des Teiges handelt und nicht nur mit Überkreuzung, wie bei unserem Scheibenkreuz-Grabstein. Weitere Grabsteine sind im Museum untergebracht und auch sie erzählen ganz unterschiedliche Geschichten.

                                                            
Grabstein Rebhuhn im Alten Schloss (transit giessen).      Grabstein Bäcker-Kämpf  (Stadtarchiv Gießen).   

                        
Grabstein Berlepsch im Alten Schloss                             Kindergrabstein im Alten Schloss (transit giessen).
(Stadtarchiv Gießen).


Vom Pestacker zum Bürgerpark

An der Straße nach Lich liegt der älteste und bekannteste Friedhof in Gießen. Bisher war man davon ausgegangen, dass die älteste Begräbnisstätte der Stadt direkt neben der alten Stadtkirche auf dem heutigen Kirchenplatz gelegen war. Dies haben jedoch archäologische Untersuchungen nicht bestätigen können. Wo die erste Begräbnisstätte Gießens lag, muss daher noch offen bleiben. Der heutige alte Friedhof ist wahrscheinlich im Zuge des Festungsbaus ab 1630 entstanden. Vielleicht sollte in einer Zeit, die immer wieder von Epidemien heimgesucht wurde, die Ansteckungsgefahr vermindert werden. Vor der Stadt, an einer Anhöhe entlang der Straße nach Lich, entstand der Friedhof.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde er verschiedene Male erweitert und im 19. Jahrhundert ein jüdischer Friedhof hinzugefügt. Durch das rasche Wachstum der Stadtbevölkerung war seine Kapazität am Ende des 19. Jahrhunderts jedoch erschöpft und die Stadt legte einen neuen Friedhof auf dem Rodtberg an.
Die Nutzung des Alten Friedhofs läuft langsam aus. Heute ist er Naherholungsgebiet für die Stadt, und überdies ein stadtgeschichtlicher Erinnerungsort, wo man vielfältige Informationen über arm und reich, Mann und Frau sowie über Kind und Greis aus den erhaltenen Grabdenkmälern ablesen kann.


Leben im Gießen des 16. Jahrhunderts:
Thomas Hart, der Töpfer aus der Katharinengasse

Die Katharinengasse, benannt nach einem dem Katharinenaltar der Pankratiuskirche gehörigen Grundstück, wird schon im 15. Jahrhundert erwähnt. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert produzierte hier die Töpferfamilie Hart. Unweit südlich der Einmündung der Löwengasse in die Katharinengasse fand man bei archäologischen Beobachtungen zwei Gruben, die mit Fehlbränden eines Töpferofens verfüllt waren. Der Ausschusscharakter war am Material deutlich abzulesen. Zahlreiche Fragmente wiesen während des Brandes angebackene Splitter weiterer Gefäße auf oder waren gleich mit diesen verklebt.
Soweit man aus diesen Funden erkennen kann, produzierte die Töpferei der Familie Hart Alltagsware, neben schlanken Töpfen mit verrundeten Leistenrändern auch flachbodige Grapen, weitmundige tiefe Schüsseln mit gekniffenen Randleisten sowie Gefäßdeckel mit Knauf.
Zu den Sonderformen in der Produktion dieser Töpfer- oder Aulnerfamilie zählen sogenannte Doppelöllämpchen, mit zwei Schalen an einem mindestens 12 cm hohen und innen hohl getöpfertem Ständer. Derartige Öllampen wurden ab dem hohen Mittelalter in höchst individueller Ausprägung gefertigt.
Dass in der heutigen Katharinengasse Töpfer der Familie Hart tätig waren, ließ sich anhand des archäologischen Fundmaterials nachweisen. Kachelfragmente zeigen die Namensinschrift „TH[…]S HART“. Der erste als „Hafner“ belegte Angehörige der Familie Hart, Johannes, wurde nach Eintrag in den Gießener Registern 1578 als Sohn der Barbara und des Thomas Hart geboren. Setzen wir voraus, dass auch Thomas schon als Töpfer tätig gewesen war, so wird der Namenszug wohl zu „TH[OMV]S HART“ zu ergänzen sein. Zudem verweist nicht zuletzt die Auffindung der Ofenkacheln mit Jahresangabe 1507 auf eine Produktion von Töpferwaren über den Zeitraum des gesamten 16. Jahrhunderts. Die „Aulner“ oder „Häfner“ gehörten damit zu den Pionieren in diesem zunächst siedlungsfeindlichen Bereich der Stadt. (Dieter Neubauer)


Dreck an den Füßen

Die Siedlung Gießen entstand auf einer kleinen Sandbank im Mündungsgebiet der Wieseck in die Lahn. Man merkt dies heute noch, wenn man mit dem Fahrrad von der Neuen Bäue über die Schulstraße und den Marktplatz Richtung Neustadt fährt. Zunächst geht es leicht bergan und dann, ab der Marktstraße wieder bergab in die Neustadt. Auf dieser niedrigen Anhöhe entstand der älteste Teil Gießens. Alle anderen Teile der heutigen Innenstadt lagen tiefer und waren weniger gut zum Bau von Häusern geeignet.
Die Ausgrabungen am Marktplatz haben den Nachweis erbracht, dass die frühen Gießener das Gelände, oder doch zumindest die Verbindungswege, immer wieder befestigten, indem sie Lagenweise Hölzer und Äste auflegten. Entlang der Wege führten Entwässerungsgräben. Wer in Gießen nicht aufpasste, bekam leicht Dreck an die Füße.
Das Gelände entlang des heutigen Selterswegs, so legen Bodenfunde nahe, wurde im Zuge der Ausdehnung der Siedlung entwässert und aufgeschüttet, um es bebaubar zu machen. Damit kam man aus den feuchten Schichten heraus und konnte sich fortan trockenen Fußes in der Siedlung bewegen.
(Nach verschiedenen Publikationen von Dieter Neubauer, Landesamt für Denkmalpflege)

 

 

 

 


Restaurierte Lederfunde zeigen recht feines Schuhwerk. Es fragt sich, ob diese dünnen Schuhe auf den feuchten Straßen und Wegen tatsächlich getragen wurden. (Ch. Henke, Landesamt für Denkmalpflege).


Geschichten von Brötchen

Brötchen von Frau Berlepsch: Die Geschichte von der Teigscher Frau

Aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts stammt der Grabstein der Frau v. Berlepsch (vermutlich Dorothea von Berlepsch) im Alten Schloss. Es wird erzählt, dass sie in Gießen „Teigscher Frau“ genannt und insbesondere von der Schuljugend bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in ehrendem Gedenken gehalten wurde, weil sie in einer Stiftung festgelegt haben soll, dass auf ewige Zeiten jeder Schüler an einem bestimmten Tag des Jahres zwei Teigscher (= Semmeln aus Weißmehl) ausgehändigt bekommen sollte. Die Akten des Stadtarchivs kennen diese Stiftung der Frau von Berlepsch nicht. Allerdings findet sich in den Bürgermeisterrechnungen des Jahres 1685 der Nachweis zu einer Ausgabe: „2 Gulden, 16 Albus, 4 Kreuzer, den Knaben in der Schul jedem einen Weck von dem Herrn Superintendenten erinnert undt von dem ehrwürdigen Rath dergestalt bewilliget worden daß in examine vernali (Prüfungen des Frühjahrs) der Gotteskasten die in autumnali (Prüfungen des Herbstes) aber die Stadt geben wollen undt kombt zum ersten mahl in Rechnung.“


Backwarenformen

Angesichts der heutigen Brotvielfalt nimmt sich das Brotangebot früherer Zeiten bescheiden aus: Roggenbrot, Graubrot und für den gehobenen Geschmack oder den dickeren Geldbeutel auch Weißbrot. Das war das Alltagsangebot.


Die Gießener Backordnung von 1543

Üblicherweise brachten die Bürger ihr Getreide zunächst in die Mühle, ließen es dort mahlen, setzten anschließend den Teig an, formten die Brote und brachten die ungebackenen Laibe schließlich zum Bäcker. Daneben gab es auch die Möglichkeit Mehl beim Bäcker abzuliefern.
In der Gießener Backordnung war das gegenseitige Verhältnis von Bäckern und ihrer Kundschaft geregelt.

„Anno Domini MDXLIII (1543) am Montag nach Fabiani et Sebastiani haben von Oberkeit vnd Ampts wegen, Amptmann, Rentmeister, Schultheis, Bürgermeister vnd gantz Rathe einhellig sich vereiniget vnd beschlossen, wie es mit dem broth-backen vnd beckern, ßo den Burgern Ir hausbroth backen, Sie seyen zunfftig oder nit hinfuro gehalten sol werden.
(...) Sal ein Jeder Becker, der ßo bey Ime backen, Je von einem pfund gemollen mehel, anderthalb pfundt guth thuegelich wol außgebacken broth libbern.
(...) Es sollen die Becker, sie seyen zunfftig oder nit, von einem Jeden achtel wolge-backen broth, zwene albus zwene pfennig, vnd nit meher zu lohne haben vnd nemen vnd kein broth.
(...) Deßgleichen ob weyther oder grosßer theuwerung vber kurtz oder lang zufallen wurde, deß wir doch nit verhoffen, Sal es doch bey obgemelten lohne bleiben. Damit die Becker zu Jeder Zeit zufridden vnd gestettiget sein sollen, vnd den Burgern vnd nachbarn Ir broth alles onweigerlich folgen lasßen. vnd sollen die Becker alle, Sie seyen zunfftig oder nit, ßo darumb angesucht werden, einem Jeden einwoner vmb bestimpte belohnung backen vnd keinen versagen.
(...) Diesße obschrebene articul alle sollen alßo nu für vnd für stethe vnd fest von einem Jeden gehalten werden, vnd welcher vnter den Beckern oder Burgern, er sey zunfftig oder nit, In beruerten articuln, einem oder meher, bruchhafftig erfunden, den oder die nit alßo wie gemelt halten wurde, vnd den mangel an Ime were, Sollen lres handwercks vnd zunfft verlustig sein, vnd keines backes meher gestattet nach zugelasßen, vnd die andern sonst gestrafft werden. Des weiß sich ein Jeder zugehalten."

(Nach Thomas Weyrauch: Gießener Rechtsquellen für Ämter und Gewerbe 1528-1737. Gießen 1989, Stadtarchiv Gießen Nr. 2814).