Gegenwart
Junges Gießen
Für Skater ist Gießen ein großes Spielfeld. Auf immer neuen Flächen, Strecken, Stufen und Rampen erproben sie ihre artistischen Fertigkeiten. Dabei erleben sie die Stadt aus ganz eigener Sicht. Zugleich sind sie Teil ihrer jungen Vielfalt: das Durchschnittsalter der Einwohner Gießens ist deutschlandweit eines der niedrigsten. Fast die Hälfte ist als Lebensabschnittsgießener zum Studieren oder für eine Ausbildung vor Ort.
Ob sie bleiben oder weiterziehen – Gießens junge Leute setzten Zeichen und hinterlassen Spuren. Sie sorgen für stete Bewegung und nachhaltige Veränderungen. Mit erfinderischen Sportarten und engagierten Fahrraddemos, mit Graffiti, Umhäkelungen oder Bepflanzungen nutzen, gestalten und prägen sie den öffentlichen Raum. Durch ihre Wohnweisen und Feierkultur sowie ihre politischen, sozialen und künstlerischen Aktivitäten aller Genres regen sie gesellschaftliche Entwicklungen an.
Ein Brett zum Gleiten durch den Raum
Das Rollbrett
Das Brett, auch Deck genannt, hat zwei Achsen (Trucks) und vier Rollen (Wheels). Mit einem Bein stoßt man sich vom Boden ab (Pushen) und setzt damit das Brett in Bewegung. Ein Bein steht auf dem Brett, mit dem anderen wird sich vom Boden abgestoßen. Durch Druck auf die Außenseiten und durch Gewichtsverlagerung (Pumpen) hält man das Brett in Fahrt und lenkt es.
Es dreht sich weniger um flotte Fortbewegung, als vielmehr um kunstvolle Bewegungen (Tricks), bei denen Treppen, Geländer, Absätze und andere Objekte im Raum mit in die Tour einbezogen werden. Springend und gleitend, oft mit atemberaubenden Drehungen flitzen Skater elegant durch Menschgruppen und über alles, was im Wege steht.
Skateboard-Fahren kam in den 60er Jahren als einen Art Wellenreiten auf Beton auf und entfaltete sich über mehrere Phasen zu einem verbreiteten Sport, der ab 2020 eine olympische Disziplin sein wird. Über lange Zeit waren Skateboard-Fahrer weitestgehend männliche Jugendliche, inzwischen kommen jedoch auch immer mehr Skaterinnen dazu.
Neue Sportarten im öffentlichen Raum
Für Skateboardfahrer wie für Inline Skater (Rollschuhen, deren Räder hintereinander angeordnet sind) gelten im Straßenverkehr dieselben Regeln wie für Rollstühle - sie sind Fortbewegungsmittel, die sich mit den Fußgängern die Bürgersteige teilen. In vielen Städten gibt es jedoch für die neuen Bewegungsarten besondere Tage, an denen Touren für sie veranstaltet werden. In Gießen ist zwischen dem 8.5. und dem 28.8. immer dienstagabends eine Route für Skater durch Gießen freigegeben (TNS Tuesday Night Skating).
Mit jeder Generation tauchen immer wieder neue Sport- und Spielaktivitäten auf, die die Neuverteilung des öffentlichen Stadtraums anmahnen: Tanzdemos, Hacky Sack Turniere mit Reisbällen, die nicht den Boden berühren sollen, Slackline balancieren auf zwischen Bäumen gespannten Bändern, Free Climbing, Klettern auch im Stadtraum oder Critical Mass Fahrradtouren - es dreht sich auch darum, im eingeengten und zunehmend kommerzialisierten Stadtraum Platz für die Aktivitäten und Bewegungsarten nachwachsender Bürger zu beanspruchen. Bei den organisierten Fahrradtouren von Critical Mass geht es sogar um mehr - der Dominanz des motorisierten Verkehrs mit seinem ökologischen Fußabdruck soll ein langsameres und umweltfreundlicheres Verkehrsmittel entgegengesetzt werden.
Das Umstricken von Pfosten und Masten, oft an stark befahrenen Straßen, Guerilla Knitting genannt, erinnert daran, dass es Gegenwelten zum Schmutz, Staub und Lärm von Straßen geben kann (transit giessen).
Auch Graffiti kann man zu den Beanspruchungen von Raum zählen: alles wird Zeichenträger, nicht nur der bezahlte Platz auf Schild und Wand (transit giessen).
Critical Mass Fahrrad-Demonstration am Ludwigsplatz (transit giessen).
Die Downhillstrecke für Mountain Bikes am Schiffenberg gewinnt dem Fahrradfahren neue Seiten ab.
https://youtu.be/bTj2GxHuDZE
Wo treffen sich junge Leute in Gießen?
Die Gießener Vereinsjugend trifft sich in ihren Sport-, Tanz- oder Musikvereinen, die kirchlich gebundene Jugend besucht Treffen und Veranstaltungen in ihren Gemeinden, die parteilich gebundene geht zu Treffen ihrer Parteijugend und die sozial engagierte geht zur Feuerwehr, sozialen Einrichtungen und Umwelt- und Naturschutzverbänden. Und die, die in keiner Organisation sind?
Wenn sie sich nicht in privatem oder kommerziellem Raum treffen - also zuhause bei Freunden oder im Sportstudio, dann verabreden sie sich nach Auskunft von befragten Jugendlichen an Bushaltestellen und auf Spielplätzen, am Friedhofseingang und auf dem Uni-Vorplatz, im Einkaufszentrum Neustädter Tor, am Lahnufer und im Park. Manchmal hinterlassen sie Spuren:
Sprayer hinterlassen ihre Spuren (transit giessen).
Lebensabschnittsgießener
Immer wieder Kreative
Mit seinen Hochschulen hat Gießen einmal eine außergewöhnlich junge Einwohnerschaft - und eine sehr ausgebildete zugleich. Das kommt einmal durch das Personal der Hochschulen zustande, aber auch dadurch, dass mit jedem Abschlussjahrgang eine große Zahl von Hochausgebildeten zur Verfügung stehen. Das trägt auch dazu bei, dass Gießen für seine Größe und Lage ein vergleichsweise besonders vielfältiges kulturelles Leben in Kunst, Theater und Musik aufweist.
Ohne diese anregenden und provozierenden Katalysatoren wäre Gießens Kulturleben vielleicht eher klein und arm dran dazu.
Gehen oder Bleiben
Immer wieder stehen neue Abschlussjahrgänge vor der Frage, ob sie in Gießen bleiben oder ob sie woanders berufstätig werden. Die Anzahl der Arbeitsplätze und Geschäftsmöglichkeiten für Hochausgebildete ist jedoch in der Region begrenzt. Zugleich wird die Lebensqualität von vielen, die hier ihre Ausbildung gemacht haben, als hoch eingeschätzt. Häufig zeigt sich in den ersten 1-2 Jahren nach dem Abschluss, ob sie in Gießen bleiben, oder ob sie woanders Angebote annehmen oder es versuchen. Besonders von den Absolventen, die bereits selbst Kinder haben, wird häufig der Wunsch geäußert, in Gießen mit seiner Betreuungs- und Schulvielfalt zu bleiben - trotz ewig ausgedehnter Pendelei zur Arbeit ins Rhein-Maingebiet.
Nicht alle, die hier eine Ausbildung machen, sind während der Phase Lebensabschnittsgießener, viele sind auch Lernpendler und fahren aus dem Umland zur Ausbildung hierher. Für die einen ist Gießen der kleine beschauliche Ort an der Schwelle zu einer urbanen Zukunft. Für die anderen dagegen die Mittelpunktstadt mit städtischem Glanz.
Sprayerparadies an der Hochwart (Peter Eschke).
Wo sind junge Gießener, wenn sie nicht in Gießen sind?
Von Reisen im Familienkreis und Klassenfahrten organisierten Freizeiten abgesehen, zieht es Gießener Jugendliche zu Musikfestivals, zu Sportereignissen und zu Fernreisen - auch wenn es nur kurze Trips sind. Günstiger Transport mit Bussen, Billigfliegern und Mitfahrgelegenheiten verschaffen auch kleinen Budgets. einen großen Radius. Jugendliche auf einem Spielplatz in der Dämmerung gaben folgende Traumziele an für die Zeit, wenn sie mal Geld haben:
* in den kurdischen Teil Syriens, um das Dorf der Großeltern zu sehen,
* an den Nürburgring für ein Rennen,
* nach Hamburg zu einem Musical,
* nach Spanien ans Meer,
* nach Libyen, das mal sehen, was da los ist,
* nach Berlin, da wo es abgeht,
* zu einem richtig krassen Rockfestival und
* gar nicht weg, weil es hier besser ist.
Eine Gruppe junger Leute, die aus Syrien gekommen ist, möchte bei einem Museumsbesuch ein Gruppenportrait vor einer Bildtapete mit dem kriegszerstörten und dem wieder aufgebauten Gießen haben, um es an Verwandte zu verschicken. "Weil man auf dem Bild im Hintergrund sieht, dass, wenn alles so zerstört ist wie Kobane, dass man das wieder aufbauen kann." (transit giessen).
Geschichten von jungen Leuten
"Ulai"
Während früher in Gießen deutlich mehr Leute Manisch oder Jenisch als Alltagssprache gesprochen haben, gibt es heute immer weniger junge Leute, die die Sprache beherrschen. Manisch oder Jenisch ist eine Minderheitensprache mit Wurzeln im Romanes, im Jiddisch und lokalen Dialekten. Die Sprache pflegt einen Wortwitz mit ironischen Bezeichnungen und wurde manchmal von den Sprechenden als Geheimsprache verwendet. Heute haben sich bei jungen Leuten in Gießen viele Ausdrücke des Manischen oder Jenischen mit Jugendsprache verbunden - dadurch hat die Sprache ihre angestammten Stadtteile Eulenkopf, Margaretenhütte und Gummiinsel verlassen und Bestandteile von ihr gehören zum allgemeinen Altersgruppenwortschatz. Die sprachliche Herkunft des Ausruf Ulai für etwas Erstaunliches ist nicht ganz geklärt, aber er gehört zu den verbreiteten Manisch oder Jenisch Begriffen, die in Gießen sogar vom Stadtmarketing aufgegriffen wurden.
Zeichen im Raum
Die deutlichsten Zeichen von jungen Leuten in Gießen sind ihre Hinterlassenschaften an Wänden und Objekten. Während für Hausbesitzer das Thema ein rotes Tuch ist und eine Kommerzialisierung und damit auch Lenkung des Sprayen von manchen Sozialprojekten wie auch etablierten Sprayern angestrebt wird - so wird auf der anderen Seite von vielen das Sprayen als wilde Kunst verstanden. Die Sprayerszene ist differenziert - geübte Könner erzeugen hochgeachtete Modelle, andere markieren alle Orte, an denen sie waren, mit ihrem endlos wiederholten Namenszug. Da wird geübt und neue Orte werden ausgekundschaftet, da wird sich abgeseilt und es wird hochgeklettert. Wenn man sich erwischen lässt wird, dann wird es teuer.
Zugleich schmücken sich manche Geschäfte mit Firmenschildern im Graffiti-Stil, um junge Kundschaft anzulocken. Die Farbenindustrie entwickelt Beläge, auf denen Sprühfarbe nicht haften bleibt oder ganz einfach abgewischt werden kann. Abwehrtechniken oder Eingemeindungsversuche rufen neue Verfahren hervor. Wenn nicht mit Farbe aufbringen, dann eben mit Lappen, Bürsten und Reinigungsmittel als Reverse Graffiti. Dabei wird der übliche Straßenschmutz entfernt und es bleibt (mittels einer Schablone) eine gereinigte Stelle als Bild übrig. Kann denn Saubermachen verboten sein?
Auseinandersetzung mit Graffiti-Ästhetik im Kunstunterricht an einer Gießener Schule (transit giessen).
Die Vergangenheit der Zukunft
Die Person, die an der Hochwart im Hügelgrab begraben wurde, hatte zu ihren Lebzeiten keine Idee davon, dass Teile aus ihrem Grab nach mehr als 3000 Jahren in einer Ausstellung betrachtet werden. Auch Joost Becker hat sich vor 500 Jahren keinesfalls vorgestellt, dass über die Brezel auf seinem Grabstein einmal in einer Ausstellung gerätselt wird.
Von den Dingen, mit denen wir uns heute umgeben, was davon wird wohl vorübergehend sein und verschwinden und vergessen werden? Was wird einfach nur Müll werden? Was wird aufbewahrt werden und in einem zukünftigen Museum etwas von unserer Welt heute erzählen? Und wenn es in 500 oder 3000 Jahren noch so etwas wie Museen gibt, was kann man sich vorstellen, was von unserer jetzigen Welt erzählt werden wird?