1960er – 1970er Jahre

Stadt der Jugend- und Studentenproteste

In der Nachkriegszeit der 1960er Jahre forderten Jugendbewegungen in fast allen Industrieländern gesellschaftliche Veränderungen. Lautstark prangerten vor allem Studenten die Kriegsführung in Dritte Welt-Staaten an, rebellierten gegen soziale Ungerechtigkeiten, erstarrte Formen des Miteinanders und leere Autorität. Ihre Demonstrationsaufrufe, Flugblätter und Manifeste vervielfältigten sie auf Hektographiermaschinen: Diese Matrizendrucker waren nicht zu teuer und funktionierten per Handbedienung.

In Gießen traten zwei Ausrichtungen der Protestbewegung besonders hervor. Die Einen zielten mit anspruchsvollen theoretischen Analysen auf Verbesserungen im Bildungssystem und mehr Demokratie an der Hochschule. Die Anderen organisierten alternative Projekte und unterstützten Benachteiligte. Ihr Engagement im Gießener Stadtteil Eulenkopf wurde weit über Oberhessen hinaus zum Beispiel für gelungene Gemeinwesenarbeit.

 
Matrizendrucker (Privatleihgabe Halland-Wirth)

Matrizendrucker                                                                                        

Eine Maschine für einfachen Druck

Der Matrizendrucker - auch Spiritusdrucker, Blaudrucker, Ormigverfahren oder Hektographiermaschine genannt - erlaubt die Herstellung von bis zu 250 Exemplaren von einer Matrize. Die besteht aus einer mit farbigem Wachs beschichteten Folie, über der ein Blatt dickeres Schreibpapier liegt. Auf dieses Papier wird mit der Schreibmaschine oder einem Stift geschrieben oder gemalt. Die Wachsschicht der darunterliegenden Folie erzeugt auf der Rückseite des Schreibpapiers einen spiegelverkehrten Abdruck. Die Vorlage wird dann auf eine Trommel der Maschine gespannt und mit der Kurbel gedreht, während unter der Trommel mit Spiritus benetztes Papier durchgezogen wird. Der Spiritus löst Farbpartikel von der Vorlage, die dann auf dem Papier hängen bleiben. Mit jedem bedruckten Blatt wird die Farb-Wachsschicht dünner, sodass der Druck zunehmend blasser wird. Matrizendrucker waren in den 70ern bis Mitte der 90er Jahre das gängige Verfahren der Vervielfältigung in Schulen, Hochschulen und Verwaltungen, bevor das Fotokopieren den Platz übernahm. Viele, die in dieser Zeit zur Schule oder Hochschule gingen, erinnern sich noch an den typischen Spiritusgeruch und das rhythmische Geräusch der Trommel kurz vor Unterrichts- oder Sitzungsbeginn.
Diese Maschine wurde einer jungen Lehrerin von ihren Eltern überlassen, weil sie für den Unterricht mit Kindern am Eulenkopf immer wieder neu Materialien herstellte. Lange Zeit wurden die Informationsblätter und Flugschriften der Eulenkopf-Initiativgruppe mit dieser Maschine gedruckt.


Mit Matrizendruck erzeugtes Einladungsschrieben zu einer Bürgerversammlung am Eulenkopf 1971 (Familie Richter / Universitätsarchiv).


Leihgeber der Maschine und Informanten über das Eulenkopfprojekt in den 70er Jahren: Hans-Jürgen Wirth und Trin Haland-Wirth (transit giessen).


Drucken kann jede und jeder

Mit dem Matrizendrucker konnten Schriften oder Flugblätter günstig - für den Preis der Matrizen, des Spiritus und des Papiers - hergestellt werden. Und es bedurfte keiner besonderen Ausbildung oder kostspieligen Anlagen. Das entsprach dem Geist der Zeit; die Dinge selbst in die Hand zu nehmen - Geld für aufwendigen Druck hatten die jungen Protestierer ohnehin nicht. Demokratisierung der Mittel, so wurde das von manchen verstanden. 'Do it yourself' würde man es heute vielleicht nennen. Das Unaufwendige der Mittel und das Improvisierte der Form standen durchaus im Gegensatz zur anspruchsvollen Wortwahl, besonders der Schriften im Hochschulbereich. Aber es kam nicht auf die Form an, der Inhalt zählte.
Die ausgestellte Maschine wurde einer jungen Lehrerin von ihren Eltern überlassen, weil sie für den Unterricht mit Kindern am Eulenkopf immer wieder neu Materialien herstellte. Lange Zeit wurden die Informationsblätter und Flugschriften der Eulenkopf-Initiativgruppe mit dieser Maschine gedruckt.


Brief des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) Gießen vom Dezember 1968 an die Leitung der Hochschule mit der Aufforderung, sich einer Diskussion über den Rücktritt zustellen. Das Blatt wurde mit einem Matrizendrucker vervielfältigt (Universitätsarchiv Sammlung Brinkmann).


Junge Leute zwischen den Blöcken

Beim Blick auf die Studentenbewegung in Gießen wird deutlich, dass sie sich im Kern an dem überfälligen Reformbedarf der Institution Universität festmacht, jedoch auch weitere, sozialpolitische und gesellschaftskritische sowie internationale Themen ins Auge fasst. Insbesondere die Kritik amerikanischer Politik in Südostasien, aber auch andere Kriege und Befreiungsbewegungen werden zur Kenntnis genommen, wenn die großen internationalen Player dabei engagiert sind. Eine Auseinandersetzung mit der Blocksituation der Großmächte USA und Sowjetunion scheint darin auf; bei einigen Teilen klingt bald die spätere Orientierung an autoritären kommunistischen Regimen an.


Ein während des Hessentages 1969 in Gießen gedrehter Super8 Film zeigt die Anwesenheit der damaligen Kultusministerin Hildegard Hamm-Brücher, gefolgt von Bildern einer Protestaktion der Landwirtschaftlichen Fakultät, die augenscheinlich die Präsenz der Kultusministerin nutzte (StadtLabor Gießen / Kleines Filmbüro).

      
Filmfund in der Ludwig-Uhland-Schule, Super8 Farbfilm, unbekannter Filmautor. Projekt Gießen in bewegten Bildern (StadtLabor Gießen / Kleines Filmbüro).


"So kann es nicht bleiben" - Aufbruch der Jugend: Universelles gegen erstarrte Autorität

Die Jugend- und Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre setzte sich auf allen Ebenen - der lokalen, landesweiten wie internationalen - aus unterschiedlichen Gruppen und Orientierungen zusammen.
In anderen europäischen Ländern machte sie sich an den dortigen gesellschaftlichen Strukturen fest. Ob in den osteuropäischen Ländern oder im Südeuropa, immer waren es überkommene Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten, die eine junge Generation aufgriff. In der Bundesrepublik spielte die erstarrte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit und die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern eine tragende Rolle. Zugleich wurde die Politik der Westmächte in der Dritten Welt kritisiert.

Bei den im Universitätsarchiv gesammelten Unterlagen aus der Studentenbewegung spielen Erinnerungskulturen und Geschlechterverhältnisse kaum eine Rolle. Dafür stehen die Machtverhältnisse an der Universität und die Forderungen nach Reformen und umfassender Demokratisierung der Hochschule im Vordergrund.
An der Sammlung von Briefen, Flugschriften, und Analysepapieren fällt auf, dass eine europäische Perspektive in jenen Jahren völlig fehlte, dass Gießener Themen häufig im Zusammenhang mit Denkfiguren der 20erJahre (wie "der Proletarier" oder "der Lehrling") verbunden wurden - und dass die Kommunikationsformen vorerst männlich erscheinen. Viele Texte sind überaus theoretisch und eloquent formuliert - und es geht gerne um das große Ganze.


Flugschrift zum Krieg in Südostasien (Universitätsarchiv).

         
Journal für Jungarbeiter und Lehrlinge in Gießen 1971 (Universitätsarchiv).


Heinrich Brinkmann, Informant zur Studentenbewegung in Gießen: "Wenn man 'zu Lande, zu Wasser und in der Luft' an einen Satz anhängen kann, ohne daß er den Sinn verliert, sollte man von dem Satz besser Abstand nehmen." (transit giessen).


Bildung für alle in Zahlen

Um 1960 betrug der Anteil jeden Jahrgangs, der einen Hochschulabschluss machte, nur 5 %. Für den Bedarf der Wirtschaft war das viel zu wenig. Trotz einer umfassenden Bildungsreform stieg der Anteil nur langsam an: 1975 waren es erst 13 %, inzwischen sind es mehr als 40% eines Jahrgangs.
Das Fördergeld für Schüler und Studierende (BAföG) trug Anfang der 1970er Jahre dazu bei, mehr Kinder von nicht-akademischen Eltern an die Hochschule zu bringen. Davon konnten auch Schülerinnen profitieren, denen zuvor eine weitergehende Bildung mit der Erwartung eines späteren Lebens als nicht-erwerbstätige Hausfrau häufiger verwehrt worden war. Ihr Anteil an einer akademischen Ausbildung stieg zwischen 1960 und 1980 von 27% auf 40% der Studierenden.


Was ist geblieben?

Frauen stellen heute beim Studium - je nach Fächern unterschiedlich, insgesamt etwas über die Hälfte der Studierenden. Beim Personal der Hochschulen sieht es anders aus - beim wissenschaftlichen Personal sind mehr Frauen in ungesicherten oder befristeten Positionen, dagegen sind bei gesicherten Leitungspositionen deutlich weniger Frauen vertreten. Die geforderte Demokratisierung der Hochschule hat erst die Gremienuniversität hervorgebracht, eine weitere Reform hat die Verwaltungsstrukturen überarbeitet. In jüngster Zeit lösen Finanzierungs- und Kommerzialisierungsfragen Debatten um demokratische oder direktive Entscheidungsstrukturen immer mehr ab.


Populäres Plakat des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) aus den frühen 70er Jahren, das ein Werbeplakat der Deutschen Bahn karikierte (Heinrich Brinkmann).


Engagement in den Wohnbezirken der Armen

Eng verbunden mit den auf Hochschulreform oder auf globale Fragen orientierten Gruppen waren Teile der Studierenden, die sich in sozialpolitischen Initiativen für die randständige soziale Lage von Gesellschaftmitgliedern interessierten. Sie waren Teil einer größeren Bewegung, die sich in der Bundesrepublik und im europäischen Ausland mit der Lebenslage von Ausgegrenzten befasste. In Gießen entstanden in dem Zusammenhang Initiativen mit benachteiligten Bewohnergruppen in den Stadtteilen Margaretenhütte, Eulenkopf und Gummiinsel.
Der Gießener Psychoanalytiker und Autor Horst-Eberhard Richter förderte die Initiativen über Jahre hinweg und sorgte für Aufmerksamkeit für das Anliegen, die Lebenslage der Bewohner zu verbessern, nicht allein in Gießen, sondern auch in Fachkreisen außerhalb.


Der Athletik-Club Eulenkopf, dessen Mitbegründer und Förderer Horst-Eberhard Richter jahrelang war, ernannte ihn 1974 zum Ehrenvorsitzenden (Familie Richter / Universitätsarchiv).


Kindergruppe am Eulenkopf. Anfang der 70er Jahre sind die Wohnungen zu eng für die Familien, schlecht ausgestattet, und außerhalb der Wohnungen ist eine Art Brache (Haland-Wirth).

In den 70er und 80er Jahren entstand im Zusammenhang der Jugend- und Studentenbewegung eine neue Infrastruktur in Gießen von Initiativgruppen, freien Kultur- und Sozialzentren, Wohnprojekten, Wagenburgen und besetzten Häusern oder alternativen Verlagen und Buchläden.
Einiges von den Lebensweisen, die erprobt wurden, ist langfristig in heutige kulturelle und soziale Einrichtungen eingegangen. So kann sich beispielsweise die Hospizbewegung auf frühere Initiativen von Homosexuellen-Organisationen im Zusammenhang der AIDS-Epidemie berufen oder die Mehrgenerationen- und Integrations-Wohnprojekte können auf den Erfahrungen von Kommunen, Wohngemeinschaften, besetzten Häusern und Landkommunen aufbauen.


Mitglieder der Eulenkopf-Initiativgruppe unternehmen einen Ausflug auf den Schiffenberg (Haland-Wirth).


Geschichten von turbulenten Zeiten

Der Akademische Micky Maus Club und das Elefantenklo

Das Hasch-Pfeifchen (von einem Spender, der anonym bleiben möchte) steht im Zusammenhang eines Individualiserungsschubes und einer Veränderung der privaten Lebensweisen, die von einer Jugendbewegung in den westlichen Industrieländern angestoßen wurden.
Der Konsum von Cannabis und ähnlichen Substanzen reicht zwar deutlich weiter zurück - gleichwohl verbindet sich die Nutzung in dieser Phase weniger mit einem künstlerisch-intellektuellen oder exotischen Lebensstil als vielmehr mit einem Aufbruch aus erstarrten, überkommenen Zwängen und aus einer Kritik an inhaltsleerer Autorität - in Familien und privaten Lebensverhältnissen genauso wie in Bildungsinstitutionen. Auf dem internationalen Parkett spiegelt sich diese Krise der Legitimität in der Kritik an ökonomischen und militärischen Machtstrukturen.
Der Akademische Micky-Maus-Klub, so nannte sich eine Gruppe männlicher Studierender, traf sich regelmäßig zu bierfreudigen Gelagen und setzte dem trockenen Ernst des Wortkampfes in der Hochschule Angeheitertes entgegen. Dieser Gruppe wird gemeinhin die Schöpfung des Namens Elefantenklo für das Betongetüm am Selterstor zu seiner Eröffnung zugeschrieben.

     
Der Akademische Micky Maus Club spottet über die universitären und ministerialen Autoritäten, 1969 (Universitätsarchiv).


Büchner-Universität

Während Protestaktionen wollten Studierende die Universität wiederholt in Georg Büchner Universität umbenennen. Es wäre der vierte Name im 20. Jahrhundert gewesen nach Ludwigs-Universität (Ludoviciana) bis 1945, Justus-Liebig-Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin ab 1946 und ab 1957 schließlich Justus-Liebig-Universität. Die Protestierenden hätten gerne an den Geist Georg Büchners angeknüpft in seiner Forderung: Friede den Hütten! Krieg den Palästen!, die er in der Flugschrift Der Hessische Landbote 1834 formuliert hatte.
Trotz Protestaktionen und Besetzungen, trotz Umstrukturierungen der alten Ordinarienuniversität und paritätisch besetzten Gremien, soweit konnten die Protestierenden nicht in die tiefen Strukturen der Institutionen eindringen.
Wenngleich der von der Zahl der Protestierenden her umfassendste Streik 1997 gegen die finanzielle Misere der Hochschule(n) unter dem Namen Lucky Streik stattfand, so wird doch gemeinhin die Zeit der endsechziger und siebziger Jahre mit Protestaktionen in Verbindung gebracht.


Ende der fünfziger Jahre zeigten sich Rektoren der Universität anlässlich einer Universitätsfeier in Talaren in der Öffentlichkeit (lagis).


Zehn Jahre später, nachdem den Talaren das Prestige mit dem Spott: Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren genommen war, protestieren hier auch Professoren gemeinsam mit Studierenden gegen die Verabschiedung der Notstandgesetze (lagis).


Besetzung des Hauptgebäudes der Justus-Liebig-Universität 1968 im Zusammenhang der Proteste gegen die Notstandgesetze (Brunk).


Athletik Club Eulenkopf

Der mehrfache Weltmeister im Bankdrücken, Vorsitzende des Athletik Club Eulenkopf und bis vor kurzen Besitzer der legendären Wurstbude Theos Woscht Eck am Eulenkopf lebt fast sein ganzes Leben in dem Stadtteil. Als junger Mann begegnete er den Studenten, die sich in der Initiativgruppe Eulenkopf engagierten. "Gefilzte" wurden sie von den Bewohnern damals genannt ...


Das Angebot in Theos Woscht Eck war in Deutsch und Manisch formuliert. Latscho Currykrumnygoij ist zum Beispiel die scharf gewürzte große Currywurst (transit giessen).

Ein Interview mit Theo Strippel über die "Gefilzten".