14. Jahrhundert vor der Zeitrechnung
Schmuck aus dem Hügelgrab an der Hochwart
In einem Hügelgrab an der Hochwart zwischen Gießen und Annerod wurde 1975 über 3300 Jahre alter Schmuck aus der mittleren Bronzezeit entdeckt. Von der Hauptbestattung in der Mitte des Hügels war wenig erhalten. Doch in der seitlichen Nebenbestattung lagen auf einem Steinpflaster einige Knochenfragmente, Zähne und unverzierte Keramikscherben. Dazu Perlen und Kostbarkeiten aus Bronze, Gold und Bernstein – gefertigt aus Materialien, die nicht aus der Region stammen. Womöglich pflegte der oder die Begrabene bereits Tauschbeziehungen bis an die Ostsee, einem Ursprungsort von Bernstein. Ob damals schon sesshafte Siedler beim heutigen Gießen lebten, ist nicht belegt. Grabhügel aber gibt es mehrere. Bei Straßenbauarbeiten an der B 49 fand man 1974 weitere bronzezeitliche Bestattungen.
Seit 1991 ist das Gelände, auf dem sich ein Solarpark und ein Wildgehege befinden, Naturschutzgebiet. Zuvor war es ein Truppenübungsplatz, Teil eines US-Militärdepots und einer Raketenstellung.
Ein Hügelgrab im Wald
Ein mittelbronzezeitliches Frauengrab?
Das Grab wird als reich ausgestattet gewertet. Die verstorbene Person könnte also einer gehobenen sozialen Schicht angehört haben. Für die mittlere Bronzezeit sind Bestattungen der Toten unter Grabhügeln in gestreckter Rückenlage auf einer Steinpflasterung häufig. Die Hügel selbst waren oft umgeben von Steinkreisen (vielleicht zur Abgrenzung der Welt der Toten von der der Lebenden).
Der Hügel auf der Hochwart hatte einen Durchmesser von ca.15 m, die ursprüngliche Höhe ist unbekannt. Bronzezeitliche Grabhügel konnten bis zu 40 Meter Durchmesser und 4 Meter Höhe erreichen. Damit waren die Grabhügel weit sichtbare Zeichen und Erinnerungssymbole. Oft finden sich mehrere Hügel in Gruppen beieinander (Grabhügelfelder). In den Hügeln finden sich eine zentrale Hauptbestattung, oft aber auch sogenannte Nachbestattungen an den Hügelflanken. Bei der vorliegenden Bestattung handelt es sich um eine solche Nachbestattung.
Die Toten erhielten unterschiedliche Beigaben mit ins Grab: Waffen, Werkzeuge und Gewandnadeln sind oft gemeinsam zu finden. Bronzeschmuck und Bernsteinanhänger bilden eine andere Gruppe.
Ausgrabung auf der Hochwart (Wiesner).
Bronzezeit in Oberhessen
Für die Nachbestattung auf der Hochwart lassen sich über die Grabausstattung an Bernsteinbeigaben Beziehungen zu benachbarten Gruppen (südlich des Mains) ablesen. Eine vielleicht noch individuellere Beziehung könnte sich über den Bernsteinschmuck ergeben, welcher dem Bernsteincollier aus Frickenhausen am Main stark ähnelt. Die Gießener mittelbronzezeitlichen Grabhügel werden in weitere mittelbronzezeitliche Grabhügel mit Steinkreisen in Gießen auf dem Trieb, in Grünberg und Hungen eingeordnet. Regional in Hessen werden sie der osthessischen Steinkreisgruppe zugerechnet, mit einer Verbreitung in einem Dreieck mit den Eckpunkten Fulda, Gießen und Wolfhagen, und überregional der Hügelgräberbronzezeit mit einer Verbreitung von Westungarn bis Ostfrankreich, von den Mittelgebirgen bis zum Alpenrand.
Gießen im Netz des bronzezeitlichen (Fern-)Handels
Im Grab wurden Gegenstände aus drei Materialgruppen gefunden: Bronze (=Kupfer+Zinn) sowie Gold und Bernstein. Kupfer kommt in Nord- und Osthessen vor. Möglicherweise war auch das Kupfer, aus dem die Bronzegegenstände aus dem Hochwartgrab geschmiedet wurden, hessischen Ursprungs.
Die Rohstoffe für die Gold- und Bernsteingegenstände hingegen mussten von weiter her beschafft werden. Die Machart der Perlen und die Kombination der Schmuckstücke weisen Parallelen auf zu Funden in der Region südlich des Mains. Der Noppenring schließlich wird als ein lokal gefertigtes Einzelstück angesehen.
Verbreitung der mittelbronzezeitlichen Steinkreise unter Grabhügeln (Wiesner).
Deutungen im Wandel
Aus heutiger Sicht werden mit Waffen und Werkzeuge ausgestattete Gräber als Männergräber und Gräber mit Schmuckausstattung als Frauengräber angesprochen. Ob die Leute, die in der Bronzezeit gelebt haben, die gleichen Vorstellungen von männlich und weiblich hatten wie wir, ist ungewiss. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Männer reich schmückten und Frauen Waffen trugen, oder jede Person individuell mit gewissen Gegenständen bestattet wurde, die die Hinterbliebenen als wichtig erachteten.
Was wir haben, was wir wissen: Was gefunden wurde
Die Zentralbestattung des Grabes an der Hochwart war bereits zerstört, doch konnten aus einer Nachbestattung am Rande des Hügels einige Funde geborgen werden:
– 7 Scheibenanhänger aus Bronze
– 2 Armspiralen aus Bronze
– 1 Rollenkopfnadel aus Bronze
– 2 Blechtutuli aus Bronze (kegelige Schmuckelemente)
– 1 Noppenring aus Gold
– ca. 120 Perlen und 5 Schieber aus Bernstein
– unverzierte Scherben einer Gefäßwand aus Keramik
Knochenfragmente waren nur wenige erhalten. Die Gegenstände lagen auf einem Steinpflaster.
Die Bronzezeit wurde nach dem Material aus Kupfer und Zinn benannt, das in der Zeit von 2200 bis 1200 vor der Zeitrechnung neben anderen bekannten Materialien, wie etwa Stein und Holz, neu verwendet wurde und nun neue Möglichkeiten bei der Herstellung von Werkzeugen, Waffen und Schmuckgegenständen eröffnete. Die Herstellung von Bronze war kompliziert. Das Wissen um den Herstellungsprozess war daher, wie das neue Metall selbst, wertvoll und teuer. Wissenschaftler sprechen davon, dass mit der Herstellung von Bronzegerätschaften erstmals auch eine Unterscheidung zwischen reichen und armen Menschen eingetreten ist. Diejenigen, die sich wertvolle Dinge leisten konnten, und diejenigen, die nicht darüber verfügten.
Verbreitung der mittelbronzezeitlichen Steinkreise unter Grabhügeln (Wiesner).
Keine Siedlung, nur ein Grab
Es gibt keine Ausgrabungen mittelbronzezeitlicher Hausgrundrisse im Gießener Stadtgebiet. Auch in der Region sind keine zeitgleichen Siedlungen nachgewiesen. Das muss nicht bedeuten, dass es keine zum Grabhügel gehörige Siedlung gab. Vielleicht ist sie noch nicht entdeckt worden, vielleicht wurden die archäologischen Überreste auch unentdeckt zerstört oder sind bereits zu stark vergangen. Entsprechend können wir auch keine Aussage darüber treffen, ob die Verstorbene eine Gießenerin war. Was aber sicher überliefert ist, ist der Grabhügel und damit eine Grabstätte.
Der Weg des Bernsteins
Bernstein wurde seit langer Zeit im mittleren und nördlichen Europa und in der gesamten Welt des Mittelmeeres als wertvolles Material unter anderem zur Herstellung von Schmuckgegenständen verwendet.
Von den großen Bernsteinvorkommen bis an die jeweiligen Fundorte in ganz Europa ist es sehr weit, doch irgendwie ist der Bernstein gewandert. Man spricht von großen Bündeln von Handelsruten in der Bronzezeit. Und einer dieser Verkehrswege ist die Bernsteinstraße. Sie ging von der Ostsee und dem Baltikum aus und führte in verschiedenen Linien nach Süden und Westen.
Einer dieser Wege führte auch durch Deutschland und streifte dabei Hessen. So kann man sich erklären, wie der Bernstein von seinen Herkunftsgebieten bis in die Region um Gießen gekommen ist.
Der Weg des Bernsteins in einem Rollkasten (transit giessen).
Wie aus anderen Welten: Die Hochwart heute
An der Hochwart, östlich von Gießen, westlich von Annerod, wurde 1975 bei Schanzarbeiten ein „vorgeschichtlicher“ Hügel angegraben. Damals war die Gießener Hochwart noch Teil eines Truppenübungsplatzes und die Grabhügel wurden bei militärischen Übungen aufgerissen, sodass die Funde zutage traten.
Auf dem Gelände in der Nähe der Fundstelle wurden zudem ein Militärdepot und eine Raketenstellung der US-Armee eingerichtet. Nach dem Abzug der Amerikaner ab den 1990er Jahren standen die Gebäude leer und die Landschaft der Hochwart wurde zum Naturschutzgebiet erklärt. Dort befinden sich heute u. a. ein Solarpark und ein Wildgehege.
Sprayer haben die Wandflächen der Militärgebäude an der Hochwart genutzt (Peter Eschke).
Reisende zwischen Ostsee und Gibraltar: Das Bernstorf-Orakel
Ein junges Mädchen der Bronzezeit hat eine verantwortungsvolle Aufgabe: die Gemeinschaft leidet seit längerem unter nassem und kalten Wetter, das Menschen und Vieh krank macht und die Pflanzen verdirbt. Um den Sonnengott dazu zu bewegen, den Menschen wieder Wärme und Licht zu geben, soll Amintha eine gefahrenvolle Reise zu einem Heiligtum unternehmen, um dort Opfergaben zu überbringen.
Sie begegnet unterwegs Menschen mit anderen Sprachen und Sitten, sie trifft Flussräuber und Menschen, die ihr helfen. Schließlich kann sie den kostbaren Bernstein auf einer Geistreise im Heiligtum des Gottes übergeben - und bei ihrer Rückkehr sieht sie, dass die Sonne tatsächlich zurückgekehrt ist.
Alix Hänsel war stellvertretende Direktorin am Museum für Ur- und Frühgeschichte in Berlin. Sie fügt Erkenntnisse und plausible Annahmen zur Bronzezeit in der Abenteuergeschichte zusammen.
„Je weiter sie von ihrer Heimat entfernt waren, umso mehr wurde ihnen für den Bernstein angeboten. Auf der langen Reise in die südlichen Länder tauschten sie ihre Schätze vor allem gegen Gold ein. Gold war sehr wertvoll und außerdem leicht zu transportieren, leichter jedenfalls als andere Waren wie Getreide, Stoffe oder Viehherden. Erst auf dem Rückweg in ihre Heimat, wenn sie, wie Halfgar erzählte, eine hohe Bergkette wieder überschritten hatten und auf Flüssen gen Norden bis in ihre Stammesgebiete weiterreisen konnten, tauschten sie das Gold gegen das ein, was sie eigentlich brauchten. Das waren vor allem Kupfer und Zinn, denn diese Metalle, aus denen fast alle Waffen und Geräte hergestellt werden konnten, gab es in ihrer Heimat nicht. Von Generation zu Generation wurde die Kenntnis der Routen, denen sie auf ihren langen Reisen folgten, weitergegeben. Gerulf und Harro durften zum ersten Mal an einer solchen Fahrt teilnehmen und lernten von den älteren Männern, auf welche Wegmarkierungen zu achten war. Führer wie Halfgar kannten die Orte, in denen die besten Handelsgeschäfte gemacht werden konnten. Sie lernten im Lauf ihres Lebens unterschiedliche Sprachen, so dass sie sich nahezu überall gut verständlich machen konnten. Und sie waren allerorts gern gesehene Gäste, wusste man doch, dass es nur von Vorteil sein konnte, Waren aus fernen Gegenden zu beziehen. Amintha erinnerte sich noch sehr gut daran, wie zuvorkommend früher Händler auch in ihrer Heimat behandelt worden waren. Aber in den letzten Jahren waren immer weniger Fremde gekommen, denn die schlechten Ernten hatten dazu geführt, dass es nur noch wenig gab, was man hätte eintauschen können.
Wie Halfgar abends am Lagerfeuer berichtete, kam es nur selten vor, dass Händler überfallen und ihrer Waren beraubt wurden. Aber das Volk, dem Amintha nach ihrem Bootsunfall in die Arme gelaufen war, hatte schon seit längerer Zeit einen schlechten Ruf. Die Leute galten als Flusspiraten und wurden, so erzählte ihnen auch ihr Führer, der sie mit den Pferden begeleitet hatte, sogar von den direkten Nachbarn gemieden. Deshalb war Halfgar nicht allzu erstaunt gewesen, als Amintha ihn vor der Weiterreise gewarnt hatte. Es war zwar lästig, diesen Umweg machen zu müssen, aber diese Verzögerung brachte wenigstens keine Einbußen für ihre Geschäfte.“
(Alix Hänsel: Das Bernstorf-Orakel. Eine lange Reise in der Bronzezeit. Hamm 2007).