Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Stadt der Geflüchteten
Weltweit waren mehr als 200 Millionen Menschen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts auf der Flucht. Mit dem Flüchtlings-, Durchgangs- und Notaufnahmelager am Meisenbornweg, jetzt Hessische Erstaufnahmeeinrichtung, wurde Gießen zu einem Ort der Fluchtrouten. In den letzten 70 Jahren fanden Menschen zunächst aus östlichen Ländern, der sowjetischen Zone und der DDR dort Aufnahme. Danach Aussiedler aus der Sowjetunion und der nachfolgenden Staatengemeinschaft GUS, später aus Südamerika, der Türkei, vom Balkan, dem Iran, Irak und den Maghrebstaaten.
In jüngster Zeit sind es hauptsächlich Verfolgte und Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, Nord- und Ostafrika, die auf oft gefahrenreichen Wegen nach Gießen gelangen. Manche tragen ihre wichtigsten Dokumente am Körper geklebt. Viele bleiben nur zur Klärung ihres rechtlichen Status in der Stadt, andere Angekommene haben sich niedergelassen und gestalten die Stadt mit.
Stadt der Geflüchteten
Ein Behälter für das Wichtigste
Dokumenten-Aufbewahrung (transit giessen).
Um wichtige Dokumente wie den Pass, Geburtsurkunden und Zeugnisse vor Verlust, Diebstahl oder Wasser zu schützen, hat ein Familienvater den Behälter angefertigt, als er mit seiner Tochter auf der Flucht aus Syrien war. Er ist aus Plastiktüten und Folien gefaltet, die den Fliehenden in der Türkei zugänglich waren. Mit breitem transparenten Klebeband ist er zusammengefügt. Mit dem gleichen Klebeband wird er auf den Körper, unter oder über die Wäsche, auf Höhe des Brustbeins geklebt. Nach Aussagen des Herstellers werden die Dokumente auf diese Weise geschützt - und falls man z.B. auf dem Meer ums Leben kommt, dann erleichtert diese Aufbewahrung die Identifikation später und die Angehörigen können informiert werden, was einem geschehen ist.
Mit seinem Besitzer hat das Dokumentenetui 9120 km auf dem Weg von Syrien nach Gießen zurückgelegt (transit giessen).
Fluchtwissen
Viele Flüchtlinge, Aussiedler, Deportierte, Vertriebene oder Umsiedler haben weite Wege zurückgelegt, bevor sie im Flüchtlingslager am Meisenbornweg, oder der heutigen Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung mit ihrer Außenstelle an der Rödgener Straße, angekommen sind. Mehr als 1200 km von Ostpreußen, über 5000 km von Kasachstan, über 1300km vom ehemaligen Jugoslawien oder 4000-9000 km haben die Ankommenden zurückgelegt, bevor sie grundversorgt und ihre Anliegen bearbeitet werden. Flüchtlinge sind unterwegs besonders schutzlos, für viele wiederholt sich fortlaufend die Gefahr, bedroht, misshandelt oder bestohlen zu werden. Sie begegnen unterwegs freundlichen und auch hasserfüllten Menschen - Privatpersonen wie Ordnungskräften. Die Gemeinschaft mit anderen Flüchtlingen und Informationen sind manchmal der einzige Schutz:
"Die anderen im Waggon haben mich mit Kohle abgerieben und unter einen Lumpenhaufen geschoben, damit die Kontrolleure mich nicht finden und vergewaltigen", erzählt eine Frau, die als junges Mädchen von Ostpreußen im Güterwaggon floh.
"Die Leute haben uns bespuckt und geschlagen. Wir rannten und da habe ich die Hand von meinem Sohn verloren. Später habe ich mit dem Handy an alle, die ich kannte, gesagt, daß der Junge weg ist. Da hat eine Frau geantwortet. Sie war mit ihren Kindern auch in den Wald geflohen und mein Junge hat sich mit den Kindern versteckt. So kamen wir 2 Tage später wieder zusammen", berichtet ein Mann, der 2015 mit seiner Familie über den Balkan nach Nordwesten gelaufen ist.
Wertsachen wie Papiere, Geld oder Schmuck hat man auf der Flucht am besten am Körper versteckt; in Kleidung eingenäht oder eben auf den Körper geklebt. Falls man durchsucht wird, ist es besser, die Sachen nicht an den Seiten, unter den Armen zum Beispiel, einzunähen - da wird abgetastet. Besser ist ein Versteck auf der Höhe des Schrittes - da wird seltener gesucht. Oder in der Kleidung von Kindern, da wird kaum etwas Konfiszier- oder Stehlbares vermutet.
Jacke mit eingenähtem Versteck für Schmuck im vorderen Jackenzipfel (transit giessen).
Fluchtgepäck (transit giessen).
Leiterwagen, Karren, Säcke, Koffer, Rucksäcke, Körbe ... das waren die Gepäckstücke mit denen Geflohene und Vertriebene in Gießen vor mehr als 70 Jahre ankamen, wenn ihr Gepäck nicht unterwegs verloren gegangen oder weggenommenen worden war. Wäsche zum Wechseln, warme Kleidung, des Öfteren Gebetsbücher, tragbare Musikinstrumente, Familienerinnerungsstücke, Dokumente wie Zeugnisse; wenn Derartiges bis hierher mitgebracht werden konnte, dann war es ein Glücksfall. Die Übersiedler aus der DDR hatten Gepäck dabei, das sie nach einer Liste der DDR-Behörden zusammengestellt hatten und auf der nichts verzeichnet war, was als wichtig für die DDR erachtet wurde. Die derzeitigen Geflohenen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder Eritrea haben oft nur kleine Rucksäcke oder Rollköfferchen mit dem Nötigsten.
Das Gepäck von M.S., als er 2017 mit seinem Kind über mehrere Länder aus Syrien nach Deutschland kam, bestand aus einem kleinen Rucksack. Für einen Erwachsenen waren darin:
1 Hose, 1 T-Shirt, 1 Paar Socken, 1 Satz Unterwäsche, Handy mit Ladegerät, 1 Kuli, Pflaster, 10 Schmerztabletten, 1 Fieberthermometer.
Für das Kind:
2 Hosen, 2 Pullover, 1 T-Shirt, 2x Unterwäsche, 1 Bürste, 1 Puppe, 1 Kettchen.
Handgeschriebene Gepäckliste einer Familie, die aus der DDR übersiedelte (transit giessen).
Gepäckanhänger von Übersiedlern aus der DDR (Stadtarchiv Gießen).
Geflohene und Vertriebene in Gießen
Eine Pforte Gießens - seit mehr als 70 Jahren
Auf dem Gelände der heutigen HEAE war nach dem Ersten Weltkrieg ein Viehmarkt, später ein Wohnwagenstellplatz von Schaustellern. Das Aufnahmelager am Meisenbornweg besteht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es begann mit Ausgebombten und bald darauf kamen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten. Mit ihnen hatte das Lager die höchste Bewohnerzahl. Die meiste Zeit seiner Existenz nahm es Leute aus der SBZ und DDR auf. Zusammen mit den Aufnahmestellen Marienfelde und Uelzen gehörte es zu den Einrichtungen speziell für Flüchtlinge und Zuziehende aus der SBZ und DDR. Bis zur Schließung des Notaufnahmelagers 1990 waren dort 900 000 Leute empfangen worden.
Drei Jahre später wurde die Einrichtung als Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen neugestaltet, inzwischen befindet sich auf dem Gelände ebenfalls eine Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Zunächst Spätaussiedler, dann Kriegsflüchtlinge sowie Asylsuchende werden seitdem dort kurzfristig aufgenommen. Nachdem ihr rechtlicher Status von der Bundesbehörde geklärt worden ist, werden sie weitergeleitet zu anderen Aufenthaltsorten.
Rechnung von 1946 über die Anschaffung von Bechern und Löffeln für das Aufnahmelager (Hessisches Staatsarchiv).
Winterquartier für Schaustellerwagen auf dem Gelände der heutigen Erstaufnahmeeinrichtung, vermutlich in den 20er Jahren (Stadtarchiv Gießen).
Die Ordnung der Geflohenen
Für jede Gruppe von Menschen, die woanders und hier Schutz sucht, wurden und werden neue Ordnungskategorien geschaffen: Displaced Persons (DPs), Evakuierte, Vertriebene und Deportierte, Aussiedler, Übersiedler, Spätaussiedler, Kontingentflüchtlinge, Konventionsflüchtlinge, Asylbewerber, Asylberechtigte, geduldete Asylbewerber, subsidiär Schutzberechtigte - die Lebenslagen der Geflüchteten und Ankommenden erweisen sich immer als facettenreicher als jegliche Lenkungs- und Ordnungsversuche.
Wenn Geflüchtete nicht vereinzelt, sondern in Gruppen Schutz und Aufnahme suchen, dann hat es fast zu allen Zeiten Ressentiments gegen die Neuen gegeben.
Von den Heimatvertriebenen der späten 40er Jahre über die Spätaussiedler bis zu den derzeitigen Kriegsflüchtlingen, immer gab und gibt es Stimmen, die sich stoßen an der Anzahl, der Geschlechterverteilung, den Berufen und Ausbildungen, daran, dass die Geflüchteten entweder nicht genug arbeiten oder die Arbeitsplätze wegnehmen, dass sie nicht richtig wohnen oder die Mietwohnungen wegnehmen und an ihren Religionen. Die Gruppen der Geflüchteten wechseln, die Formulierungen über sie scheinen teilweise über 70 Jahre haltbar.
Stempel aus dem ehemaligen Notaufnahmelager (transit giessen).
Laufzettel zum Aufenthalt im Notaufnahmelager für Flüchtlinge aus der DDR 1989 (transit giessen).
Fluchten und Migrationen
Zurzeit sind mehr als 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Von den Flüchtlingen, die in jüngster Zeit die Grenzen ihrer Herkunftsländer überschritten haben, sind die meisten in der Türkei aufgenommen worden (2016 fast 3 Millionen). Pakistan steht bei den Aufnahmen an zweiter Stelle mit 1,3, Millionen, gefolgt vom Libanon mit der Aufnahme von ungefähr 1 Millionen Flüchtlingen.
Bei Flüchtlingen, die im Moment nach Deutschland gelangen, wird (z.B. in der Aufnahmestelle am Meisenbornweg) der Status geprüft. Dabei wird ermittelt, zu welcher der nach geltendem Recht vier Statusgruppen die Person gerechnet wird:
Dreht es sich um Asyl entweder nach dem Grundgesetz (i.d.R. bei vom Staat ausgehender politischer Verfolgung), oder ist die Person Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention und wird wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt.
Die dritte Statusgruppe umfasst nach dem des Asylgesetz §4 sogenannte subsidiär. Schutzberechtigte, die von Folter, Todesstrafe oder in ihrer Unversehrtheit bedroht sind.
Die vierte Gruppe, Geduldete, umfasst Personen, die aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder weil Interessen der Bundesrepublik tangiert sind, eine Aufenthaltsgestattung für jeweils 6 Monate zugesprochen bekommen.
Der zugesprochene Status hat Folgen für die Freizügigkeit, das Recht sich durch Arbeit selbst zu ernähren, den Familiennachzug und den Zeitraum der Gültigkeit.
Die Rechtslage befindet sich immer wieder im Wandel und ist unübersichtlich für die Ankommenden genauso wie für die Bürger, die sich bei der Integration engagieren.
Diese Bilder aus einem Amateurfilm zeigen Szenen aus dem Zusammenhang des Notaufnahmelagers, vermutlich um 1969 (transit giessen).
Fluchtgeschichten
Ankunft aus der SBZ / DDR:
Geflüchtete aus der DDR berichten über ihre Erfahrungen.
Lagerordnung 1952 (Stadtarchiv Gießen).
Kinder auf der Flucht
Obgleich die Eltern auf der Flucht selbst keine Sicherheit haben, wollen sie unbedingt ihren Kindern Sicherheit geben. Zugleich müssen oft Kinder für den Schutz ihrer Familie sorgen: für kleine Geschwister, für das versteckte Geld in der Kleidung, um Milde bei Verfolgern zu erwirken oder weil sie kleiner sind und leichter durch Hindernisse durchschlüpfen können. Eltern, die mit ihren Kindern auf der Flucht waren, geben Auskunft über die Angst, Kinder zu verlieren oder sie nicht vor Gewalt oder dem Anblick von Gewalt schützen zu können.
Eine Familie, die aus der DDR kam, hatte für den Transit Spielzeug ausgewählt, weil sie ahnten, dass es lange Wartezeiten geben würde und Sorge hatten, dass unruhige Kinder Grenzer verärgern könnten und dem Übergangsprozess schaden würden.
So wählten sie kleine und leichte Spielzeuge, die von den Kindern in der Hand oder am Arm selbst getragen werden können. Sie sollten außerdem aus einem Teil bestehen, damit nicht Figuren oder Einzelteile unterwegs gesucht werden müssen. Mit dem Spielzeug sollten mehrere Kinder zugleich spielen können. Deshalb ließen sie die Brettspiele und Karten zurück und entschieden sich für einen Plüschbären, eine Puppe und eine Prinzessinnen-Handpuppe.
Eine andere Sorge hatte ein Vater aus Syrien. Da die Flucht mehrere Jahre dauerte und durch viele Länder ging, von denen keines Flüchtlingskinder in Schulen zuließ, hatte er Sorge, dass die gute Schülerin den Anschluss später nicht mehr finden würde. Deshalb besuchte er auf dem Weg alle Museen und Denkmäler, die er ausfindig machen konnte, und nahm jede Gelegenheit von Malstunden oder Bastelstunden in sozialen Einrichtungen wahr, damit das Kind wenigstens auf diese Weise etwas lernen konnte.
Teddy, Puppe und Prinzessinnen-Handpuppe sollten Kinder auf dem Weg aus der DDR beruhigen (transit giessen).
Lernen auf der Flucht: Ein Besuch im Eisenbahnmuseum Besuch eines Kulturdenkmals in Griechenland (M. S.).
in Izmir (M. S.).
Bastelstunde in einer kirchlichen Einrichtung in Athen (M. S.).
Spuren in der Stadt
Von den Vielen, die durch die Aufnahmeeinrichtung am Meisenbornweg durchgeschleust wurden, sind einige wenige in Gießen geblieben. Auch im Zuge der Integrationspolitik gab es Wohnungsneubauten. So wurden einige Wohnhäuser in der Nordstadt für den Wohnraumbedarf von Flüchtlingen aus der SBZ/DDR vorgesehen.